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Anzeige gegen den Arbeitgeber („Whistleblowing“)

Beschäftigte können in erhebliche Gewissenskonflikte geraten, wenn sie Kenntnis von Straftaten des Arbeitgebers oder Missständen im Betrieb erlangen, zum Beispiel bei Verstößen gegen Arbeitsschutzbestimmungen. Hier stellen sich einige Fragen:

Die Zeugenpflicht ist eine allgemeine Staatsbürgerpflicht. Bei der Möglichkeit, eine Strafanzeige zu erstatten, handelt es sich um ein von der Verfassung garantiertes Recht, solange keine wissentlich unwahren oder leichtfertig falschen Angaben gemacht werden.

Es gibt verschiedene gesetzliche Regelungen, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ein Anzeige- und Beschwerderecht geben. Hierzu zählt zum Beispiel § 17 Abs. 2 Arbeitsschutzgesetz im Bereich des Arbeits- und Gesundheitsschutzes.

Im deutschen Recht gibt es hier aktuell keine allgemeinverbindlichen gesetzlichen Regelungen. Initiativen zur gesetzlichen Verankerung des Informantenschutzes blieben bislang erfolglos. Lediglich vereinzelt finden sich gesetzliche Bestimmungen, zum Beispiel im Beamtenrecht (§ 67 Abs. 2 Nr. 3 Bundesbeamtengesetz, § 37 Abs. 2 Nr. 3 Beamtenstatusgesetz).

Eine Kündigung kommt dann in Betracht, wenn Beschäftigte bei der Erstattung der Strafanzeige wissentlich oder leichtfertig falsche Angaben gemacht haben oder die Strafanzeige eine unverhältnismäßige Reaktion auf ein Verhalten des Arbeitgebers darstellt.

Der Motivation für eine Strafanzeige kommt somit erhebliche Bedeutung zu. So müssen Beschäftigte dann mit einer Kündigung rechnen, wenn sie die Anzeige stellen, um den Arbeitgeber zu schädigen oder sich zu rächen. Eine Kündigung ist vor allem dann gerechtfertigt, wenn Beschäftigte wissen, dass die erhobenen Vorwürfe falsch sind. Dann verletzen sie ihre arbeitsvertragliche Loyalitätspflicht in erheblichem Maße und zerstören das Vertrauensverhältnis zum Arbeitgeber.

Grundsätzlich sind Arbeitgeber und Beschäftigte zur gegenseitigen Rücksichtnahme verpflichtet (§ 241 Abs. 2 BGB). Beschäftigte sollten daher zunächst versuchen, den Arbeitgeber auf Missstände wie Verstöße gegen Arbeitsschutzbestimmungen oder Straftaten im Betrieb aufmerksam zu machen und Abhilfe verlangen.

Im Einzelfall ist eine vorherige innerbetriebliche Klärung allerdings dann nicht zumutbar, wenn sich Beschäftigte durch eine Nichtanzeige selbst einer Strafverfolgung aussetzen würden oder der Arbeitgeber eine erhebliche Straftat wie Betrug oder Untreue begeht.

Es ist nicht relevant, wie das Strafverfahren ausgegangen ist. So kann ein Strafverfahren auch enden, ohne dass eine Entscheidung über die Vorwürfe ergangen ist, etwa bei Einstellung der Ermittlungen durch die Staatsanwaltschaft.

Bedeutsam ist, ob der oder die Beschäftigte die Anzeige im guten Glauben erstattet hat. So verhielt es sich im Fall einer Altenpflegerin, die Missstände in der Pflege zum Anlass genommen hatte, den Arbeitgeber wegen schweren Betrugs anzuzeigen. Die Ermittlungen wurden eingestellt und sie bekam daraufhin ihre Kündigung. Die deutschen Arbeitsgerichte hielten die Kündigung für gerechtfertigt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte demgegenüber keinen Zweifel an ihrer Gutgläubigkeit, sah die Meinungsfreiheit als vorrangig gegenüber dem Interesse des Unternehmens an, seinen Ruf zu schützen, und verurteilte den Arbeitgeber zur Zahlung einer Entschädigung wegen Verletzung der Freiheit der Meinungsäußerung.

Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen sollten sehr gut abwägen, ob sie eine Strafanzeige erstatten. Wenn sie sich nicht sicher sind, ob Straftaten begangen worden sind, sollten sie anwaltlichen oder gewerkschaftlichen Rat einholen, bevor sie zur Staatsanwaltschaft oder Polizei gehen. Sie können sich auch an den Betriebs- oder Personalrat oder einen anderen Ansprechpartner im Betrieb wie einen Compliance Officer wenden.

Erstatten Beschäftigte leichtfertig eine unrichtige Strafanzeige, riskieren sie, sich wegen falscher Verdächtigung (§ 164 Strafgesetzbuch) oder Verleumdung (§ 187 Strafgesetzbuch) strafbar zu machen.

In vielen großen Unternehmen gibt es mittlerweile Compliance-Richtlinien oder Ethikrichtlinien. Diese betreffen das Verhalten Beschäftigter im Betrieb und unterliegen der Mitbestimmung des Betriebsrats (§ 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG).

Erfährt der Betriebsrat von Missständen oder Straftaten im Betrieb, sollte er ebenfalls zunächst versuchen, vom Arbeitgeber Abhilfe zu verlangen. Das ergibt sich aus dem Grundsatz der vertrauensvollen Zusammenarbeit. Erst wenn das keinen Erfolg verspricht, kann er sich, zum Beispiel bei einem Verstoß gegen Arbeitsschutzbestimmungen, an die Aufsichtsbehörde oder bei Straftaten an die Strafverfolgungsbehörden wenden.

 

Redaktioneller Stand: August 2017

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