Jede gesetzliche Definition wirft in der Praxis Fragen nach der konkreten Anwendbarkeit auf. So ist es auch hier. Die Beurteilung, wann der Tatbestand der sexuellen Belästigung erfüllt ist, ist immer eine Frage der Einzelfallbeurteilung. Anhaltspunkte, wie das Merkmal der sexuellen Belästigung nach dem AGG auszulegen ist, liefern folgende Gerichtsentscheidungen:
- Schlag auf das Gesäß (BAG 9.6.11, 2 AZR 323/10, NZA 2011, 1342)
- Umfassen der Hüften/Griff nach dem Po (ArbG Berlin 27.1.12, 28 BV 17992/11)
- Drücken des Beckens an das Gesäß (LAG Mecklenburg-Vorpommern 14.8.12, 5 Sa 324/11)
- Berührung der weiblichen Brust und anzügliche Bemerkungen (BAG 20.11.14, 2 AZR 651/13)
- Heimliches Fotografieren des Gesäßes (LAG Rheinland-Pfalz 3.11.09, 3 Sa 357/09)
- Anfassen von Rücken, Schulter, Oberschenkel (LAG Rheinland-Pfalz 24.10.07, 8 Sa 125/07)
- mit den Armen den Rücken bis zum Gesäß herabstreichen (LAG Schleswig-Holstein 10.11.15, 2 Sa 235/15)
- Heranrutschen auf der Couch und Griff an den Oberschenkel (ArbG Weiden 16.9.15, 3 Ca 1739/14).
Bereits zur früheren Rechtslage nach dem Beschäftigtenschutzgesetz (durch das AGG abgelöst) sind zahlreiche Entscheidungen ergangen. In § 2 Abs. 2 BeschSchG a.F. wird die sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz als ein vorsätzlich sexuell bestimmtes Verhalten definiert, welches die Würde des Beschäftigten am Arbeitsplatz verletzt, sodass die Grundsätze auch heute noch heranzuziehen sind. Als sexuelle Belästigungen wurden u.a. festgestellt:
- Vulgäre oder obszöne Äußerungen (BVerwG 4.4.01, 1 D 15/01)
- Erzwingung sexueller Handlungen, aufgedrängte körperliche Berührung und Küsse (BVerwG 12.11.98, 2 WD 12/98)
- Pornographische Bilder am Arbeitsplatz und Aufforderung zu sexuellen Handlungen (ArbG Düsseldorf 19.6.97, AuR 97, 447)
- Sexueller Missbrauch unter Ausnutzung betrieblicher oder dienstlicher Vorgesetztenpositionen (BVerwG 14.5.02, 1 D 30/01)
- Pornographische Darstellung, die in einer den Sexualtrieb aufstachelnden Weise den Menschen zum bloßen auswechselbaren Objekt geschlechtlicher Begierde degradiert (OLG Düsseldorf 28.3.74, NJW 74, 1474, 1475)
- Unerwünschte Einladungen oder Briefe mit eindeutiger Absicht (LAG Hamm 10.3.99, LAGE Nr. 75 zu § 1 KSchG Verhaltensbedingte Kündigung)
- Bemerkungen sexuellen Inhalts (LAG Hamm 22.10.96, NZA 97, 769)
- Wiederholtes dichtes Herantreten an Mitarbeiterinnen in einem engen Gang, Umarmung und Streicheln des Haares (LAG Hamburg 21.10.98, LAGE Nr. 3 zu § 4 BeschSchG).
Ein Verhalten mit sexuellem Bezug kann aber auch in solchen Äußerungen liegen: „Wie wäre es denn mit uns, stell dich nicht so an“ oder „Du bist eingebildet, kein Wunder, dass du keine Männer kriegst“ (ArbG Lübeck 2.11.00, 1 Ca 2479/00).
Mitunter mag es schwer sein, eine dumme oder taktlose Äußerung richtig einzuschätzen, die – vor allem, wenn sie aus dem Zusammenhang gerissen wird – zwar zu kritisieren ist, aber gleichwohl noch keine sexuelle Belästigung darstellt. Auf einer Baustelle geht es derber zu als in einem Geldinstitut, und ein sogenannter „Herrenwitz“, der bei einer Betriebsfeier vielleicht noch hingenommen wird, stößt im normalen Bürobetrieb möglicherweise auf Ablehnung.
Die Gerichte prüfen aber stets den Einzelfall und berücksichtigen die konkrete Situation, also das betriebliche Umfeld und auch die Beziehungs- und Hierarchieebenen der Beteiligten, denn sexuelle Belästigung ist häufig ein Versuch der Machtausübung gegenüber den Betroffenen.