Urteile
Arbeit auf Abruf und Beschäftigungszeit
Orientierungssätze
Vereinbaren Arbeitgeber und Arbeitnehmer*in Arbeit auf Abruf, legen aber die Dauer der wöchentlichen Arbeitszeit nicht fest, gilt nach dem Gesetz grundsätzlich eine Wochenarbeitszeit von 20 Stunden. Die Arbeitsgerichte können den Arbeitsvertrag nur ergänzend auslegen, wenn die gesetzliche Regelung nicht sachgerecht ist und objektive Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Parteien bei Vertragsschluss übereinstimmend eine andere Dauer der wöchentlichen Arbeitszeit gewollt hätten.
Gericht
Bundesarbeitsgericht vom 18.10.2023Aktenzeichen
5 AZR 22/23
Der Rechtsstreit
Ein Unternehmen der Druckindustrie beschäftigt mehrere Arbeitnehmer*innen als „Abrufkräfte“. Die jeweiligen Arbeitsverträge enthalten keine Regelung zur Dauer der wöchentlichen Arbeitszeit. Die Beschäftigten werden von der Arbeitgeberin je nach Bedarf in unterschiedlichem Umfang zur Arbeit herangezogen. Das Gesetz sieht für solche Fälle vor, dass eine wöchentliche Arbeitszeit von 20 Stunden als vereinbart gilt. Tatsächlich beschäftigte die Arbeitgeberin die Abrufkräfte jahrelang in erheblich höherem Maß als 20 Stunden in der Woche.
Das änderte sich in den Jahren 2020 und 2021. Die Arbeitszeit wurde immer weiter reduziert und betrug häufig weniger als 20 Stunden pro Woche. Die Arbeitgeberin zahlte den Abrufkräften nur den Lohn für die geleistete Arbeit. ver.di hatte für 21 betroffene Mitglieder Ansprüche auf Entgeltdifferenz geltend gemacht und die Auffassung vertreten, dass sich die Arbeitsverträge gleichsam durch schlüssiges Verhalten geändert hätten. Die Abrufkräfte seien jahrelang regelmäßig zu mehr als 20 Wochenarbeitsstunden herangezogen worden. Man müsse deshalb den Arbeitsvertrag ergänzend auslegen und von höheren Mindestarbeitszeiten ausgehen.
Die durchschnittliche Arbeitszeit der letzten drei Jahre vor dem Jahr 2020 sei aufgrund einer stillschweigenden Änderung der ursprünglichen vertraglichen Vereinbarung Bestandteil des Arbeitsvertrags geworden.
Vereinbaren Beschäftigte und Arbeitgeberin keine Wochenarbeitszeit, gelten 20 Stunden als vereinbart
Im vorliegenden Fall war eine Beschäftigte mit ihrer Klage bereits vor dem Arbeitsgericht und dem Landesarbeitsgericht weitgehend gescheitert. Die Gerichte gingen nicht davon aus, dass der Arbeitsvertrag stillschweigend durch schlüssiges Verhalten verändert worden sei. Es gelte die im Gesetz vorgesehene Mindestarbeitszeit von 20 Wochenstunden. Das Arbeitsgericht hatte deshalb der Klägerin nur in sehr geringem Umfang recht gegeben. Lediglich für die Zeit, in der die Arbeitgeberin der Klägerin Entgelt für weniger als 20 Wochenarbeitsstunden gezahlt hat, hat das Gericht die Arbeitgeberin verurteilt, eine höhere Vergütung zu zahlen.
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat diese Entscheidungen jetzt bestätigt. Hätten die Parteien Arbeit auf Abruf vereinbart und keine wöchentliche Mindestarbeitszeit festgelegt, gelte nach dem Gesetz eine wöchentliche Mindestarbeitszeit von 20 Stunden. Das stelle eine konkrete Regelung dar und es gebe insoweit keinen Grund, den Arbeitsvertrag ergänzend auszulegen.
Aus schlüssigem Verhalten kann sich ergeben, dass mehr als 20 Wochenstunden vereinbart sind
Etwas anderes gelte nur, wenn es Anhaltspunkte dafür gebe, dass Arbeitgeberin und Arbeitnehmerin bei Abschluss des Arbeitsvertrags eine höhere oder niedrigere Dauer der wöchentlichen Arbeitszeit vereinbart hätten. Für eine solche Annahme habe die Klägerin jedoch keine Anhaltspunkte vorgetragen.
Es reiche nicht aus, dass die Arbeitgeberin die Klägerin über Jahre stets länger beschäftigt habe als 20 Stunden pro Woche. Damit hätte sie noch nicht zu erkennen gegeben, dass sie sich insoweit vertraglich binden wolle. Ebenso wenig könne aus der Bereitschaft der Arbeitnehmerin, wöchentlich mehr als 20 Stunden zu arbeiten, geschlossen werden, sie wolle sich insoweit vertraglich binden.
Der Kommentar
Arbeit auf Abruf vermindert das Risiko des Arbeitgebers. Für Beschäftigte bedeutet sie ein hohes Maß an Unsicherheit. Zwar verfügen sie über ein festes Arbeitsverhältnis, müssen aber stets damit rechnen, dass der Arbeitgeber sie für längere Zeit nicht einsetzt und nicht bezahlt. Abrufarbeit weicht damit erheblich vom arbeitsrechtlichen Grundsatz ab, dass eigentlich der Arbeitgeber das Wirtschafts- und Betriebsrisiko zu tragen hat. Arbeitsentgelt muss er den Beschäftigten in „normalen“ Arbeitsverhältnissen auch zahlen, wenn er die vereinbarte Arbeitsleistung nicht benötigt. Natürlich gibt es Ausnahmen, z.B. bei Insolvenz oder Kurzarbeit. Darauf soll hier nicht eingegangen werden.
In Großbritannien und den Niederlanden etwa sind „Null-Stunden-Arbeitsverträge“ weit verbreitet. Arbeitgeber*innen beschäftigen ihre Arbeitnehmer*innen zuweilen wochenlang gar nicht oder ziehen sie nur sporadisch zur Arbeit heran. Im arbeitsrechtlichen Schrifttum ist man sich weitgehend darin einig, dass solche Regelungen in Deutschland unwirksam wären. Sie wären ein Verstoß gegen den Grundsatz, dass der Arbeitgeber das Wirtschafts- und Betriebsrisiko trägt.
Ein Vertrag über Abrufarbeit muss grundsätzlich eine bestimmte Dauer der wöchentlichen und täglichen Arbeitszeit festlegen
In Deutschland regelt § 12 des Gesetzes über Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge (Teilzeit- und Befristungsgesetz – TzBfG) Arbeit auf Abruf. Ein Vertrag über Abrufarbeit muss eine bestimmte Dauer der wöchentlichen und täglichen Arbeitszeit festlegen. Wenn sie nicht festgelegt ist, gilt eine Arbeitszeit von 20 Stunden in der Woche als vereinbart. Der Arbeitgebermuss der*dem Beschäftigten jeweils mindestens vier Tage im Voraus mitteilen, dass er sie*ihn zur Arbeit einteilt. Wenn die Dauer der täglichen Arbeitszeit nicht festgelegt ist, hat der Arbeitgeber die Arbeitsleistung der einzelnen Beschäftigten jeweils für mindestens drei aufeinander folgende Stunden in Anspruch zu nehmen. Das kann durch Tarifvertrag, aber auch abweichend geregelt sein.
Aus dem Gesetz folgt, dass sich die Parteien des Arbeitsvertrags auch auf eine Arbeitszeit von weniger oder mehr als 20 Wochenstunden einigen können. Im vorliegenden Fall ging es darum, ob das durch schlüssiges Verhalten geschehen kann. Die Klägerin war der Auffassung, dass das der Fall ist, wenn sie die Arbeitgeberin drei Jahre lang regelmäßig mehr als 20 Stunden in der Woche beschäftigt hat. In diesem Fall müsste als Mindestarbeitszeit die durchschnittlich in diesem Zeitraum gearbeitete Wochenarbeitszeit zugrunde gelegt werden.
Beschäftigte können nicht davon ausgehen, dass der Arbeitgeber Leistungen, die er ohne Absprache mehrere Jahre gewährt hat, auch in Zukunft gewährt
Das BAG geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass Arbeitspflichten sich nach längerer Zeit auf bestimmte Arbeitsbedingungen konkretisieren können. Es reicht aber nicht aus, wenn die konkreten Arbeitsbedingungen lediglich eine Zeitlang anders sind als im Arbeitsvertrag vereinbart. Die Arbeitnehmer*innen könnten nicht davon ausgehen, dass der Arbeitgeber Leistungen auch in Zukunft gewährt, die er ohne Absprache mehrere Jahre gewährt habe, sagt das BAG in einer Vielzahl von Entscheidungen. Dadurch allein werde der Arbeitsvertrag noch nicht sillschweigend ergänzt. Neben dem Zeitablauf müssten vielmehr weitere Umstände vorliegen, die ein schutzwürdiges Vertrauen der Beschäftigten begründen. Denn der Arbeitseinsatz sei ein tatsächliches Verhalten, dem allein kein bestimmter rechtsgeschäftlicher Erklärungswert in Bezug auf den Inhalt des Arbeitsverhältnisses zukäme.
Ein schutzwürdiges Vertrauen der Beschäftigten sehen die Arbeitsgerichte etwa in Fällen der „betrieblichen Übung“: Eine solche liegt vor, wenn der Arbeitgeber bestimmte Verhaltensweisen regelmäßig wiederholt und die Arbeitnehmer*innen daraus schließen können, dass er ihnen eine Leistung oder eine Vergünstigung auf Dauer einräumen will. Das war im vorliegenden Fall aber nicht so. Von einer betrieblichen Übung könnte man nur ausgehen, wenn die Arbeitgeberin die Klägerin mindestens drei Jahre lang mit einer bestimmten Arbeitszeit beschäftigt hätte, etwa stets dreißig Stunden in der Woche.
Arbeitgeber haben die Möglichkeit, einen großen Teil ihres wirtschaftlichen Risikos auf Beschäftigte abzuschieben
Die jetzige Entscheidung des BAG enthält somit nichts Überraschendes. Sie entspricht vielmehr der ständigen Rechtsprechung. Gleichwohl ist sie unbefriedigend. Das Gesetz schreibt nicht vor, dass bei Arbeit auf Abruf stets eine Mindestarbeitszeit von 20 Stunden in der Woche gilt. Das ist nur dann der Fall, wenn die Arbeitsvertragsparteien die Dauer der wöchentlichen Arbeitszeit nicht festgelegt haben. Es ist also möglich, eine viel kürzere Zeit zu vereinbaren.
Arbeitgeber könnten also dafür sorgen, dass sie nur für wenige Stunden in der Woche das Wirtschafts- und Betriebsrisiko tragen, auch wenn sie Beschäftigte in erheblich höherem Maße zur Arbeit heranziehen. Denkbar wäre etwa, im Arbeitsvertrag eine Mindestarbeitszeit von sechs Stunden in der Woche zu vereinbaren, den*die Arbeitnehmer*in aber in unterschiedlichem, erheblich höherem Umfang zur Arbeit heranzuziehen. Der Arbeitgeber würde nur für sechs Stunden in der Woche das Wirtschafts- und Betriebsrisiko tragen und es im Übrigen auf die*den Beschäftigten abschieben. Das ist kaum zu akzeptieren. Das zu ändern dürfte aber nicht Aufgabe der Gerichte sein. Hier ist der Gesetzgeber gefordert.
Zusammengestellt und kommentiert von Dietmar Christians, Ass. jur., Bremen, 13.11.2023
© ver.di Bildung + Beratung Gem. GmbH