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Urteile

Bundesarbeitsgericht schränkt den Grundsatz der gleichen Bezahlung von Leiharbeitnehmer*innen und Stammbeschäftigten deutlich ein

Orientierungssätze

Die Parteien eines Tarifvertrages dürfen nur dann vereinbaren, dass Leiharbeitnehmer*innen weniger Arbeitsentgelt erhalten als vergleichbare Stammbeschäftigte, wenn der Tarifvertrag ihnen im Gegenzug Vorteile in Bezug auf wesentliche Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen gewährt. Das hatte der Europäische Gerichtshof (EuGH) im Dezember 2022 entschieden. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) ist der Auffassung, dass ein solcher Ausgleich schon deshalb besteht, wenn die Verleiher das Wirtschafts- und Betriebsrisiko für verleihfreie Zeiten uneingeschränkt tragen.

  • Gericht

    Bundesarbeitsgericht vom 31.05.2023
  • Aktenzeichen

    5 AZR 143/19

Der Rechtsstreit

Der EuGH hatte im Dezember 2022 zum Grundsatz des „Equal Pay“ eine wichtige Entscheidung getroffen. Wir haben darüber berichtet. Nach der Leiharbeitsrichtlinie 2008/104/EG der Europäischen Union müssen die wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen von Leiharbeitnehmer*innen denjenigen der Stammbeschäftigten entsprechen. Dieser Richtlinie entspricht im nationalen Recht der Bundesrepublik Deutschland das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG). Gemäß der Richtlinie darf ein Mitgliedstaat den Sozialpartnern die Möglichkeit einräumen, Tarifverträge zu schließen, die unter Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmer*innen von den wesentlichen Arbeitsbedingungen des entleihenden Unternehmens abweichen.

Die Klägerin erhielt ein deutlich niedrigeres Arbeitsentgelt als vergleichbare Stammbeschäftigte
Ausgangsverfahren war ein Rechtsstreit, der von der DGB Rechtsschutz GmbH im Auftrag von ver.di bis vor das Bundesarbeitsgericht geführt wurde. Die Klägerin war in einem befristeten Arbeitsverhältnis bei der Beklagten als Leiharbeitnehmerin in Teilzeit beschäftigt. Von Januar bis April 2017 war sie hauptsächlich in einem Unternehmen des Einzelhandels als Kommissioniererin eingesetzt. Dort verdiente sie zuletzt 9,23 Euro brutto in der Stunde. Vergleichbare Stammarbeitnehmer*innen erhielten zur gleichen Zeit einen Stundenlohn von 13,64 Euro brutto.

Die Klägerin hatte ihre Klage auf den Gleichstellungsgrundsatz des AÜG gestützt und für den Zeitraum von Januar bis April 2017 eine Differenzvergütung in Höhe von 1.296,72 Euro brutto verlangt.

Auf das Leiharbeitsverhältnis fand kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit ein Tarifvertrag des Interessenverbandes Deutscher Zeitarbeitsunternehmen e.V. (iGZ) und von ver.di Anwendung. Die Klägerin erhielt von der Beklagten den niedrigeren tariflichen Lohn der Leiharbeit. Die Beklagte meint, dass dieses Tarifwerk nicht gegen Unionsrecht verstoße. Zudem hat sie die Höhe der von der Klägerin vorgetragenen Vergütung vergleichbarer Stammarbeitnehmer*innen mit Nichtwissen bestritten.

Das BAG legte die Sache dem EuGH vor, um klären zu lassen, was die Richtlinie mit „Gesamtschutz“ meint
Vor dem Arbeitsgericht und dem Landesarbeitsgericht hatte die Klägerin keinen Erfolg. Das BAG erkannte, dass es in der europäischen Richtlinie keine Definition des Begriffs „Gesamtschutz“ gibt. Sein Inhalt und die Voraussetzungen für seine Achtung seien im Schrifttum umstritten, so das höchste deutsche Arbeitsgericht. Daher legte es die Sache dem EuGH zur Vorabentscheidung vor. Der Gerichtshof entschied, dass ein Tarifvertrag zwar grundsätzlich ein geringeres Arbeitsentgelt für Leiharbeitnehmer*innen vorsehen könne. Dafür müsse er den Leiharbeiter*innen im Gegenzug zum Ausgleich gleichwertige Vorteile in Bezug auf wesentliche Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen gewähren, um den in der Richtlinie vorgesehenen Gesamtschutz zu gewährleisten bzw. Nachteile auszugleichen. Wenn ein Tarifvertrag einen niedrigeren Lohn für Leiharbeiter*innen vorsehe, könnte er im Gegenzug etwa zusätzliche Freizeit gewähren.

Das BAG musste beurteilen, ob die gewährten Ausgleichsvorteile es ermöglichen, die Auswirkungen der Ungleichbehandlung auszugleichen
Auf dieser Grundlage musste das BAG nunmehr beurteilen, ob der Gesamtschutz von Leiharbeitnehmer*innen im konkreten Fall erfüllt ist. Die wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen eines bestimmten Arbeitsplatzes eines*einer Stammbeschäftigten musste es mit denen der*des Leiharbeitnehmer*in vergleichen. Es geht darum, ob die gewährten Ausgleichsvorteile es ermöglichen, die Auswirkungen der Ungleichbehandlung auszugleichen.

Auf diesem Hintergrund hat das BAG jetzt eine überraschende Entscheidung zu Lasten der Leiharbeitnehmer*innen gefällt und die Revision zurückgewiesen. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf ein Arbeitsentgelt, wie es vergleichbare Stammarbeitnehmer*innen des Entleihers erhielten, so das BAG. Die Beklagte sei vielmehr nur verpflichtet gewesen, die tarifliche Vergütung der Leiharbeit zu zahlen.

Der fünfte Senat des BAG ist der Auffassung, dass die Ungleichbehandlung durch gesetzliche und tarifvertragliche Pflichten der Arbeitgeber*innen neutralisiert wird
Das Tarifwerk genüge im Zusammenspiel mit gesetzlichen Schutzvorschriften für Leiharbeitnehmer*innen den Anforderungen der Richtlinie, führte das Gericht weiter aus. Zwar habe die Klägerin einen Nachteil erlitten, weil sie eine geringere Vergütung erhielt, als sie erhalten hätte, wenn sie unmittelbar für den gleichen Arbeitsplatz von dem entleihenden Unternehmen eingestellt worden wäre. Das ließe die Richtlinie aber ausdrücklich zu, sofern dies unter „Achtung des Gesamtschutzes der Leiharbeitnehmer“ erfolge. Dazu müssten nach Vorgabe des EuGH Ausgleichsvorteile ermöglichen, die Ungleichbehandlung zu neutralisieren.

Anders als in einigen anderen europäischen Ländern seien verleihfreie Zeiten nach deutschem Recht auch bei befristeten Leiharbeitsverhältnissen stets möglich. Der fragliche Tarifvertrag gewährleiste, dass die Vergütung in verleihfreien Zeiten fortgezahlt würde. Außerdem habe der deutsche Gesetzgeber für den Bereich der Leiharbeit zwingend sichergestellt, dass Verleiher das Wirtschafts- und Betriebsrisiko für verleihfreie Zeiten uneingeschränkt tragen. Das Gesetz erlaube es nicht, dass Leiharbeitnehmer*innen auf ihr Arbeitsentgelt verzichteten, wenn ihr Arbeitgeber sie nicht beschäftige. Das sei bei "normalen" Beschäftigten anders.

Auch habe der Gesetzgeber dafür gesorgt, dass die tarifliche Vergütung von Leiharbeitnehmer*innen staatlich festgesetzte Lohnuntergrenzen und den gesetzlichen Mindestlohn nicht unterschreiten dürfe. Zudem sei seit dem 1. April 2017 die Zeit, in der der Arbeitgeber vom Grundsatz des gleichen Arbeitsentgelts abweichen dürfe, grundsätzlich auf die ersten neun Monate des Leiharbeitsverhältnisses begrenzt.

Der Kommentar

„Es ist schon frustrierend, wenn man vor dem EuGH weitgehend gewonnen hat und nun der 5. Senat des BAG bei seiner Linie bleibt, die schon in dem Vorlagebeschluss zum Ausdruck gekommen ist, die aber vom EuGH nicht bestätigt wurde“, sagt Rudolf Buschmann vom Centrum für Revision und europäisches Recht der DGB Rechtsschutz GmbH. Er hat die Klägerin im Auftrag von ver.di vor dem BAG und dem EuGH vertreten. Und er fügt hinzu, dass die Gewerkschaften und ihre Prozessvertreter sich entschieden für die Gleichbehandlung der Leiharbeiter*innen eingesetzt hätten. Der EuGH habe die Auffassung des gewerkschaftlichen Rechtsschutzes im Grunde auch geteilt. Leider sei der fünfte Senat des BAG der Rechtsauffassung des EuGH in ihren entscheidenden Punkten nicht gefolgt.

Der fünfte Senat hat die Aussagen des EuGH offensichtlich nicht hinreichend erfasst
Dabei hat der fünfte Senat nach meiner Wahrnehmung die Entscheidung des EuGH auch nur unzureichend erfasst. Bis dato liegt das Urteil noch nicht in schriftlicher Form vor, sodass dessen Begründung noch nicht vollständig veröffentlicht ist. Aus der Pressemitteilung wird indessen deutlich, dass der Senat insbesondere die Pflicht des Arbeitgebers, das Entgelt auch in der „verleihfreien Zeit“ fortzuzahlen und die Tatsache, dass insoweit auch nichts zum Nachteil der*des Leiharbeitnehmer*in vereinbart werden darf, als den ausreichenden „Ausgleichsvorteil“ ansieht, den der EuGH fordert.

Insoweit macht es Sinn, sich die entscheidende Passage in der Begründung des EuGH einmal genau anzusehen:

„Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2008/104 ist dahin auszulegen, dass die Frage, ob die Pflicht zur Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern erfüllt ist, konkret zu beurteilen ist, indem für einen bestimmten Arbeitsplatz die wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen, die für die von dem entleihenden Unternehmen unmittelbar eingestellten Arbeitnehmer gelten, mit denen verglichen werden, die für Leiharbeitnehmer gelten, um so feststellen zu können, ob die in Bezug auf diese wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen gewährten Ausgleichsvorteile es ermöglichen, die Auswirkungen der Ungleichbehandlung auszugleichen.“ (Hervorhebungen durch den Autor)

Das BAG hat lediglich abstrakt und ohne Berücksichtigung der konkreten Bedingungen im Einsatzbetrieb den Gesamtschutz beurteilt
Der fünfte Senat des BAG hat aber die Pflicht zur Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmer*innen gerade nicht konkret beurteilt. Er hat offensichtlich nicht die wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen für den konkreten Arbeitsplatz eines*einer vergleichbaren Stammbeschäftigten mit denen der Klägerin verglichen. Vielmehr hat das Gericht abstrakt und ohne Berücksichtigung der konkreten Bedingungen im Einsatzbetrieb im Wesentlichen lediglich auf die Pflicht der Verleiher verwiesen, das Entgelt auch in Zeiten fortzuzahlen, in denen es keinen Einsatz gibt.

Richterschelte liegt mir sehr fern, insbesondere wenn es um unterschiedliche Rechtsauffassungen geht. Die Begründung macht mich aber fassungslos. Ganz offensichtlich zielte der Senat hier bereits vor der Entscheidung des EuGH auf ein „wünschenswertes“ Ergebnis. Weil es darum geht, EU-Recht auszulegen, war das BAG als letztinstanzliches Gericht verpflichtet, dem EuGH die entscheidende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen.

Dieser Pflicht ist das BAG zwar nachgekommen. Es hat aber offensichtlich die wesentliche Aussage des EuGH – vorsichtig ausgedrückt – nicht mit seinem tatsächlichen Gehalt vollständig erfasst. Es wäre nämlich im Zweifel darauf angekommen, welchen „Ausgleichsvorteil“ die Klägerin im konkreten Einsatzbetrieb gegenüber vergleichbaren Beschäftigten gehabt hätte.

Es ist im vorliegenden Fall nicht ersichtlich, welchen „Ausgleichsvorteil“ die Klägerin konkret hat
Zumindest aus der Pressemitteilung des BAG geht nicht hervor, dass festangestellte Kommissionierer*innen im fraglichen Einsatzbetrieb auf Entgeltfortzahlung bei Annahmeverzug ihres Arbeitgebers verzichtet hätten. Somit ist nicht ersichtlich, welchen Vorteil die Klägerin gegenüber vergleichbaren Stammbeschäftigten gehabt hätte, der den Nachteil des erheblich niedrigeren Entgelts ausgleicht.

Im Übrigen haben die Gerichte offensichtlich auch gar nicht geprüft, ob der Entleiher mit vergleichbaren Beschäftigten überhaupt vereinbart hat, dass sie auf Lohn verzichten, wenn er sie nicht beschäftigen kann. Rudolf Buschmann weist auch insoweit darauf hin, dass das ohnehin eine absolute Ausnahme in der Arbeitswelt darstellt:
„Der Senat verschweigt, dass nach Rechtsprechung und Literatur nur in engen Grenzen zulässig ist, die Pflicht des Arbeitgebers abzubedingen, den Arbeitnehmer*innen das Arbeitsentgelt weiter zu zahlen, wenn er sie nicht beschäftigen kann. Das Unternehmerrisiko darf nicht vollständig auf Beschäftigte übertragen werden“.

Zusammengestellt und kommentiert von Dietmar Christians, Ass. jur., Bremen, 10.07.2023

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