Urteile
Ein kleiner Betriebsrat ist besser als keiner
Orientierungssätze
Wenn es bei einer Betriebsratswahl weniger Bewerber*innen gibt, als Betriebsratsmitglieder zu wählen sind, kann ein Betriebsrat mit weniger Mitgliedern errichtet werden. Bei der Ermittlung der Anzahl ist so lange auf die jeweils nächstniedrigere Stufe des § 9 BetrVG zurückzugehen, bis die Zahl von Bewerber*innen für die Errichtung eines Gremiums mit einer ungeraden Anzahl an Mitgliedern ausreicht.
Gericht
Bundesarbeitsgericht vom 24.04.2024Aktenzeichen
7 ABR 26/23
Der Rechtsstreit
Die Arbeitgeberin ist Trägerin einer Klinik mit in der Regel 170 beschäftigten Arbeitnehmer*innen. Gemäß § 9 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) ist deshalb ein aus sieben Mitgliedern bestehender Betriebsrat zu bilden. Im Frühjahr 2022 kandidierten bei der Wahl allerdings nur drei Arbeitnehmer*innen. Dementsprechend wurde ein Betriebsrat mit drei Mitgliedern gewählt.
Die Arbeitgeberin meint, es gäbe keinen ordnungsgemäß gewählten Betriebsrat
Die Arbeitgeberin ist der Auffassung, dass die Betriebsratswahl nichtig sei. Sie hat es deshalb unterlassen, an monatlichen Besprechungen mit dem Betriebsrat teilzunehmen. Dazu wäre sie gemäß § 74 Absatz 1 BetrVG verpflichtet, wenn es einen ordnungsgemäß gewählten Betriebsrat gibt. Die Arbeitgeberin weigerte sich zudem, an den Sitzungen des Wirtschaftsausschusses teilzunehmen.
Der Betriebsrat führte gegen die Arbeitgeberin ein Beschlussverfahren mit dem Ziel, dass sie ihre Verpflichtungen gegenüber dem Betriebsrat einhält. Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht (LAG) Hamburg entschieden zugunsten des Betriebsrats und gaben der Arbeitgeberin auf,
- monatliche Besprechungen mit dem Betriebsrat zu führen und
- an den Sitzungen des Wirtschaftsausschusses teilzunehmen.
Bundesarbeitsgericht: Der Betriebsrat ist auch ordnungsgemäß, wenn er kleiner als vom Gesetz vorgesehen ist
Hiergegen legte die Arbeitgeberin Rechtsbeschwerde beim Bundesarbeitsgericht (BAG) ein. Der siebte Senat des BAG entschied, dass es der Wahl eines Betriebsrats nicht entgegenstünde, wenn sich nicht genügend Bewerber*innen für das Betriebsratsamt fänden. Nach dem Willen des Gesetzgebers müsse in Betrieben mit in der Regel mindestens fünf ständig wahlberechtigten Arbeitnehmer*innen, von denen drei wählbar seien, Betriebsräte gewählt werden. Wenn es weniger Kandidat*innen als zu vergebende Betriebsratssitze gäbe, sei auf die jeweils nächstniedrigere Stufe des § 9 BetrVG so lange zurückzugehen, bis die Zahl von Bewerber*innen für die Errichtung eines Gremiums mit einer ungeraden Anzahl an Mitgliedern ausreiche.
Der Kommentar
Eine ganz wichtige Aussage des BAG in dieser Entscheidung ist, dass die Bildung von Betriebsräten ab einer Betriebsgröße von fünf ständig wahlberechtigten Arbeitnehmer*innen Wille des Gesetzgebers ist. Und in der Tat ist der Wortlaut von § 1 Absatz 1 BetrVG insoweit eindeutig: Dort steht nicht, dass ein Betriebsrat gewählt werden kann oder darf. In Betrieben mit in der Regel mindestens fünf ständigen wahlberechtigten Arbeitnehmer*innen, von denen drei wählbar sind, werden Betriebsräte gewählt, bestimmt das Gesetz. Danach ist die Existenz von Betriebsräten der Regelfall und nicht die Ausnahme.
Das Gesetz geht davon aus, dass die Belegschaft einen Betriebsrat wählt
Es hängt zwar von der Initiative der Belegschaft ab, ob ein Betriebsrat gewählt wird. Das Gesetz geht aber davon aus. Viele Einflussmöglichkeiten der Beschäftigten setzen auch voraus, dass es einen Betriebsrat gibt. Nur dann muss etwa der Arbeitgeber bei Betriebsänderungen einen Sozialplan vereinbaren. Und nur dann gibt es die betrieblichen Mitbestimmungsrechte. So gesehen „bestraft“ das Gesetz Beschäftigte, wenn sie keinen Betriebsrat wählen, obwohl es das Gesetz vorsieht.
Entscheidend ist, dass die Wahl nach demokratischen Grundsätzen stattfindet. Insoweit enthält das BetrVG Regeln und sieht für den Fall, dass diese nicht eingehalten werden, Konsequenzen vor. Die Betriebsratswahl kann nichtig oder jedenfalls anfechtbar sein.
Grundsätzlich regelt das Gesetz zwingend, wie viele Mitglieder der Betriebsrat hat
Gegen demokratische Grundsätze wird nicht verstoßen, wenn der Betriebsrat kleiner wird, als es das Gesetz vorsieht. Ein Verstoß wäre es nur dann, wenn der Wahlvorstand von vorneherein bestimmen würde, dass ein kleinerer Betriebsrat zu wählen ist, etwa „um Kosten zu sparen“.
Das BAG geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass § 9 BetrVG die Anzahl der zu wählenden Betriebsratsmitglieder zwingend regelt. Das gilt aber nicht, wenn es objektiv nicht möglich ist, einen Betriebsrat in der vom Gesetz vorgesehenen Größe zu wählen.
§ 11 BetrVG bestimmt, dass die Zahl der Betriebsratsmitglieder der nächstniedrigeren Betriebsgröße zugrunde zu legen ist, wenn ein Betrieb nicht die ausreichende Zahl von wählbaren Arbeitnehmer*innen hat. Das wendet die Rechtsprechung analog auch für den Fall an, dass sich nicht genügend Arbeitnehmer*innen wählen lassen wollen.
Grundsatz: Es ist ein Betriebsrat zu wählen, selbst wenn es nur eine*n Wahlbewerber*in gibt
Im vorliegenden Fall verhielt es sich so, dass es auch bezogen auch die nächstniedrigere Betriebsgröße keine ausreichende Anzahl von Bewerber*innen gab. Das wäre nämlich nach § 9 BetrVG eine Betriebsgröße von 51 bis 100 wahlberechtigten Arbeitnehmer*innen gewesen, für die fünf Mitglieder hätten gewählt werden müssen.
Das BAG sagt zu Recht, dass in § 1 Abs. 1 Satz 1 BetrVG der Wille des Gesetzgebers ausgedrückt wird, dass in Betrieben mit in der Regel mindestens fünf ständig wahlberechtigten Arbeitnehmer*innen, von denen drei wählbar sind, Betriebsräte gewählt werden – ohne Wenn und Aber. Deshalb ist es konsequent, § 11 BetrVG auch insoweit analog anzuwenden. Bei der Ermittlung der Anzahl der Betriebsratsmitglieder ist so lange auf die jeweils nächstniedrigere Stufe des § 9 BetrVG zurückzugehen, bis die Zahl von Bewerber*innen für die Errichtung eines Gremiums mit einer ungeraden Anzahl an Mitgliedern ausreicht. Das war im vorliegenden Fall dann die nächste Stufe: Bei 21 bis 50 wahlberechtigten Arbeitnehmer*innen besteht der Betriebsrat aus drei Mitgliedern.
Zusammengestellt und kommentiert von Dietmar Christians, Ass. jur., Bremen, 22.05.2024
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