Urteile
Hohe Hürden für krankheitsbedingte Kündigungen
Orientierungssätze
Krankheitsbedingte Kündigungen sind sozial gerechtfertigt, wenn es eine negative Prognose hinsichtlich der voraussichtlichen Dauer der Arbeitsunfähigkeit gibt. Zudem müssen die betrieblichen Interessen erheblich beeinträchtigt sein. Darüber hinaus muss eine Abwägung der Interessen von Arbeitnehmer*in und Arbeitgeber ergeben, dass der Arbeitgeber die Störung im Arbeitsverhältnis billigerweise nicht mehr hinnehmen muss.
Dem Betriebsrat muss der Arbeitgeber alle Gründe mitteilen, die seinen Kündigungsentschluss herbeigeführt haben.
Gericht
Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein vom 10.01.2024Aktenzeichen
3 Sa 74/23
Der Rechtsstreit
Es geht um eine Kündigung wegen Krankheit. Die 1969 geborene Klägerin ist verheiratet und einer Tochter zum Unterhalt verpflichtet. Bei ihrem Arbeitgeber ist sie seit dem 1. August 2020 als Bilanzbuchhalterin mit einer Wochenarbeitszeit von 35 Stunden beschäftigt. Der Arbeitgeber beschäftigt weit mehr als 10 Mitarbeiter*innen.
Bereits seit Oktober 2021 fiel die Klägerin mehrfach aus, weil sie arbeitsunfähig krank war. Seit dem 6. Dezember 2021 ist sie wegen ihrer Krankheit dauerhaft arbeitsunfähig. Am 3. Juni 2022 hat der Arbeitgeber die Klägerin zu einem Betrieblichen Eingliederungsmanagement (BEM) eingeladen. Zugleich hat er sie über die Ziele und die gesetzlichen Grundlagen des BEM aufgeklärt.
Der Arbeitgeber lädt die Klägerin zum Betrieblichen Eingliederungsmanagement ein
Der Arbeitgeber fügte der Einladung zudem die geltende Betriebsvereinbarung zum Betrieblichen Eingliederungsmanagement vom 31. Mai 2022 sowie einer Einwilligungserklärung zum Datenschutz bei. Mit Schreiben vom 10. Juni 2022 hat die Klägerin ihre Teilnahme am Betrieblichen Eingliederungsmanagement abgelehnt.
Vom 24. August 2022 bis zum 14. Oktober 2022 wurde die Klägerin akut stationär in einer Klinik behandelt und von dort arbeitsunfähig entlassen. Am 26. Oktober 2022 hat der Arbeitgeber die Klägerin erneut zum BEM eingeladen. Diese hat die Einladung nicht angenommen, weil sie nach wie vor wegen ihrer Krankheit arbeitsunfähig war.
Mit Schreiben vom 4. November 2022 informierte die Beklagte den Betriebsrat zur beabsichtigten personenbedingten Kündigung. Der Betriebsrat hat in seiner Sitzung am 7. November 2022 der beabsichtigten Kündigung zugestimmt.
Der Arbeitgeber kündigt die Klägerin krankheitsbedingt
Mit Schreiben vom 10. November 2022 sprach der Arbeitgeber eine ordentliche, fristgerechte Kündigung zum 31. Dezember 2022, hilfsweise zum nächstmöglichen Zeitpunkt aus.
Am 24. November 2022 erhob die Klägerin Kündigungsschutzklage beim Arbeitsgericht Elmshorn, das der Klage mit Urteil vom 5. April 2023 stattgab. Hiergegen hat der Arbeitgeber am 25. Mai 2023 Berufung beim Landesarbeitsgericht (LAG) Schleswig-Holstein eingelegt. Diese hatte allerdings keinen Erfolg, weil das LAG sie für unbegründet hielt.
Das LAG hielt die Kündigung aus zwei Gründen für unwirksam: Sie ist sozial ungerechtfertigt und der Arbeitgeber hat den Betriebsrat nicht ordnungsgemäß angehört.
Der Arbeitgeber hat im Verfahren nicht ausreichend dargelegt, dass die betrieblichen Interessen erheblich beeinträchtigt sind. Von einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen ist etwa auszugehen, wenn in den nächsten 24 Monaten mit keiner Genesung gerechnet werden kann. Insoweit hatte er vorgetragen, dass er für die Klägerin eine (interne) Ersatzkraft habe einsetzen müssen.
Es fehlt jeder Vortrag, dass der Arbeitgeber auf dem Arbeitsmarkt nach einer Bilanzbuchhalterin gesucht hätte
Laut LAG fehle jede Begründung, warum die Ersatzkraft dauerhaft die Tätigkeit der Klägerin übernehmen müsse. Das sei ohnehin kaum anzunehmen, weil der Arbeitgeber selbst erklärt habe, er könne die Ersatzkraft vielseitig einsetzen und man könne ihr jede andere Position zuweisen. Weiter sei unklar, weshalb der Arbeitgeber auf eine angeblich dauerhafte interne Lösung habe setzen müssen, statt eine externe befristete Lösung zu versuchen. Es möge zutreffen, dass es auf dem Arbeitsmarkt wenig Bilanzbuchhalter*innen gebe. Es fehle aber jeder Vortrag, dass der Arbeitgeber diesbezüglich erfolglos Anstrengungen unternommen hätte. Warum die Stelle als Bilanzbuchhalterin nicht für maximal zwei Jahre durch eine Vertretungskraft besetzt werden könne, werde nicht erklärt.
Zudem habe der Arbeitgeber nicht erklärt, weshalb er der Klägerin nach deren Rückkehr nicht eine andere Stelle würde zuweisen können.
Die Anhörung des Betriebsrats sei nicht ordnungsgemäß erfolgt, weil der Arbeitgeber ihm den Grund nicht mitgeteilt habe, der aus seiner subjektiven Sicht für die Kündigung entscheidend gewesen sei. Er habe dem Betriebsrat nicht mitgeteilt, dass die Stelle der Klägerin dauerhaft durch die interne Ersatzkraft besetzt werden solle und die Arbeitsleistung der Klägerin damit dauerhaft überflüssig werden würde.
Der Kommentar
In Betrieben mit mehr als zehn Beschäftigten können sich Arbeitnehmer*innen, die mehr als ein halbes Jahr ohne Unterbrechung in demselben Betrieb oder Unternehmen beschäftigt sind, mit einer Kündigungsschutzklage gegen eine etwaige Kündigung zur Wehr setzen. Im Verfahren vor dem Arbeitsgericht muss dann der Arbeitgeber im Zweifel beweisen, dass es einen Kündigungsgrund gibt: Die Kündigung muss im Verhalten oder der Person der*des Beschäftigten begründet sein oder aus dringenden betrieblichen Erfordernissen erfolgen. Dabei ist stets wichtig, von welchen Gegebenheiten in Zukunft auszugehen ist. Insoweit erfordert die Begründung einer Kündigung immer eine Prognose.
Eine krankheitsbedingte Kündigung ist dann gerechtfertigt, wenn die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht zumutbar ist
Im vorliegenden Fall hat der Arbeitgeber wegen Krankheit gekündigt. Das ist eine personenbedingte Kündigung und grundsätzlich dann sozial gerechtfertigt, wenn wegen der Krankheit der Arbeitgeber die Störungen im Arbeitsverhältnis billigerweise nicht mehr hinnehmen muss.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) kann eine krankheitsbedingte Kündigung entweder wegen häufiger Kurzerkrankungen oder wegen einer lang andauernden Krankheit erfolgen. In unserem Fall geht es um eine Krankheit, die schon länger besteht und zum Zeitpunkt der Kündigung noch andauert.
Die Gerichte prüfen eine solche Kündigung in drei Stufen: sie ist gerechtfertigt, wenn
- eine negative Prognose hinsichtlich der voraussichtlichen Dauer der Arbeitsunfähigkeit vorliegt,
- eine darauf beruhende erhebliche Beeinträchtigung betrieblicher Interessen festzustellen ist und
- eine Interessenabwägung ergibt, dass die betrieblichen Beeinträchtigungen zu einer billigerweise nicht mehr hinzunehmenden Belastung des Arbeitgebers führen.
Wenn die*der gekündigte Beschäftigte bestreitet, dass die Kündigung gerechtfertigt ist, muss der Arbeitgeber alle drei Stufen darlegen und im Zweifel Beweis antreten. Das Gericht darf von Amts wegen nicht ermitteln. Nicht ganz einfach für Arbeitgeber ist bereits die erste Stufe.
Ein Arbeitgeber kann für bis zu 24 Monate ohne Schwierigkeiten eine Ersatzkraft einstellen
Die Rechtsprechung geht von einer negativen Prognose aus, wenn – zum Zeitpunkt der Kündigung – in den folgenden 24 Monaten mit keiner Genesung gerechnet werden kann. Bis zu 24 Monate kann der Arbeitgeber dagegen üblicherweise ohne Schwierigkeiten durch Einstellung einer Ersatzkraft mit einem befristeten Arbeitsverhältnis überbrücken.
Im vorliegenden Fall hatte der Arbeitgeber jedenfalls zur zweiten Stufe nicht hinreichend vorgetragen. Es fehlte nämlich die Darlegung, warum die interne Ersatzkraft dauerhaft die Tätigkeit der Klägerin übernehmen muss. Der Arbeitgeber hatte vorgetragen, dass diese Kraft universell einsetzbar sei. Er könnte sie also nach Genesung der Klägerin auf einem anderen – gleichwertigen – Arbeitsplatz weiter beschäftigen, zumal er auch vorgetragen hatte, dass im Betrieb starke personelle Fluktuation herrsche. Auch hätte der Arbeitgeber mitteilen müssen, warum er die Klägerin nach deren Genesung nicht auf einem anderen ggf. freien Arbeitsplatz hätte einsetzen können.
Eine Kündigung soll immer die letzte Möglichkeit, die „Ultima Ratio“, sein
Eine Kündigung stellt immer die letzte mögliche Maßnahme dar, wenn es keine –zumutbaren – milderen Maßnahmen gibt, um der erheblichen betrieblichen Beeinträchtigungen Herr zu werden. Das nennt sich das „Ultima-Ratio-Prinzip“. Wenn es für den Arbeitgeber eine weniger einschneidende Möglichkeit als eine Kündigung gibt, muss er diese wählen.
Die Kündigung wäre aber auch unwirksam gewesen, wenn der Arbeitgeber alle drei Stufen hätte ausreichend darlegen und beweisen können. Zu einer Beweisaufnahme wäre es nämlich gar nicht gekommen, weil er den Betriebsrat nicht ordnungsgemäß angehört hat.
Der Arbeitgeber muss dem Betriebsrat die Gründe für die Kündigung mitteilen, die ihn dazu bewogen haben, das Arbeitsverhältnis zu beenden
Eine Betriebsratsanhörung ist „subjektiv determiniert“, wie die Rechtsprechung sagt. Der Arbeitgeber muss dem Betriebsrat alle Tatsachen darlegen, die seinen Kündigungsentschluss herbeigeführt haben. Nicht entscheidend ist, ob diese Gründe für eine Kündigung überhaupt ausgereicht hätten. Es kommt nur darauf an, was den Arbeitgeber zur Kündigung veranlasst hat. Der Betriebsrat hat dann die Möglichkeit, die Stichhaltigkeit und Gewichtigkeit der Kündigungsgründe zu überprüfen und sich eine eigene Meinung zu bilden.
In unserem Fall hatte der Arbeitgeber im Gerichtsverfahren die Kündigung im Wesentlichen damit begründet, dass er für die Klägerin dauerhaft eine interne Ersatzkraft habe einstellen müssen, weshalb die Arbeitsleistung der Klägerin damit dauerhaft überflüssig werden würde. Das hatte der Arbeitgeber dem Betriebsrat bei der Anhörung aber gar nicht mitgeteilt. Im Anhörungsschreiben hatte der Arbeitgeber lediglich pauschal und ungenau mitgeteilt, dass die Klägerin „zumindest teilweise“ zu ersetzen sei.
Zusammengestellt und kommentiert von Dietmar Christians, Ass. jur., Bremen, 28.03.2024
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