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Urteile

Leiharbeitnehmer*innen: Der Gesamtschutz muss gewährleistet sein!

Orientierungssätze

Die Parteien eines Tarifvertrags dürfen grundsätzlich vereinbaren, dass Leiharbeitnehmer*innen weniger Arbeitsentgelt erhalten als die vergleichbare Stammbelegschaft eines Einsatzbetriebs. Der Tarifvertrag muss ihnen im Gegenzug allerdings zum Ausgleich Vorteile in Bezug auf wesentliche Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen gewähren, um den in der Richtlinie vorgesehenen Gesamtschutz zu gewährleisten. Das hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) im Dezember 2022 in einem von der DGB Rechtsschutz GmbH im Auftrag von ver.di geführten Verfahren entschieden.

  • Gericht

    Europäischer Gerichtshof vom 15.12.2022
  • Aktenzeichen

    C-311/21

Der Rechtsstreit

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hatte im Dezember 2020 den Fall einer Klägerin zu entscheiden, die in einem befristeten Arbeitsverhältnis als Leiharbeitnehmerin beschäftigt ist. Ihre Arbeitgeberin hat sie an ein Unternehmen des Einzelhandels für dessen Auslieferungslager als Kommissioniererin überlassen. Die Klägerin ist Mitglied bei ver.di. Ihre Arbeitgeberin gehört dem Interessenverband Deutscher Zeitarbeitsunternehmen (iGZ e.V.) an. Das Arbeitsverhältnis ist daher tarifgebunden.

Zuletzt betrug der Stundenlohn der Klägerin 9,23 Euro brutto. Damit war ihr Arbeitsentgelt deutlich niedriger als das vergleichbarer Stammarbeitnehmer*innen der Entleiherin. Diese bekamen nach dem Lohntarifvertrag für die gewerblichen Arbeitnehmer*innen im Einzelhandel einen Stundenlohn von 13,64 Euro.

Nach Auffassung der Klägerin ist hier der Grundsatz auf Gleichstellung verletzt
Die Klägerin sah den Gleichstellungsgrundsatz des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes (AÜG) verletzt. Leiharbeitnehmer*innen steht nach § 8 Absatz 1 AÜG derselbe Lohn zu wie der restlichen Stammbelegschaft. Allerdings kann davon durch einen Tarifvertrag abgewichen werden (§ 8 Abs. 2 und 4 AÜG). Und genau darauf berief sich die Arbeitgeberin. Weil das Arbeitsverhältnis tarifgebunden sei, seien die Tarifverträge der Zeitarbeit, geschlossen zwischen dem IGZ sowie den DGB-Gewerkschaften, mit unmittelbarer und zwingender Wirkung auf das Arbeitsverhältnis anzuwenden.

Die Klägerin war indessen der Auffassung, dass die Tariföffnung im AÜG sowie die IGZ-Tarifverträge gegen europäisches Recht verstoßen. Mit dem AÜG habe der Gesetzgeber die Leiharbeitsrichtlinie der Europäischen Union umgesetzt, argumentierte sie. Die Richtlinie schreibe in Artikel 5 vor, dass die wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen der Leiharbeitnehmer*innen denjenigen der Stammbeschäftigten entsprechen müssten.

Der Gesamtschutz der Leiharbeitsrichtlinie ist nach Auffassung der Klägerin nicht mehr gewahrt
Die Richtlinie gestatte dem Mitgliedsstaat zwar, den Sozialpartnern die Möglichkeit einzuräumen, Tarifverträge zu schließen, die unter Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmer*innen vom Grundsatz der Gleichbehandlung abwichen. Der Gesamtschutz der Richtlinie sei indessen nicht mehr gewahrt, wenn die Tarifverträge ausschließlich zu Lasten der Leiharbeitnehmer*innen vom Gleichbehandlungsgrundsatz und von sonstigen gesetzlichen Regelungen abweichen würden.

Das Arbeitsgericht und das Landesarbeitsgericht (LAG) folgten der Klägerin allerdings nicht und gaben deren Klage nicht statt. Das LAG erkannte jedoch die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache und ließ die Revision zum Bundesarbeitsgericht (BAG) zu.

Das BAG legt die Rechtsfrage dem Europäischen Gerichtshof vor
Mit Beschluss vom 16. Dezember 2020 legte das oberste deutsche Arbeitsgericht die Sache dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) zur Vorabentscheidung vor. Eine Definition des „Gesamtschutzes“ enthielte die Richtlinie nicht, so das BAG. Sein Inhalt und die Voraussetzungen für seine „Achtung“ seien umstritten.

EuGH: Der Gesamtschutz der Leiharbeitnehmer*innen muss gewährleistet sein
Der EuGH entschied nun, dass es den Tarifvertragsparteien grundsätzlich möglich ist, ein geringeres Arbeitsentgelt für Leiharbeitnehmer*innen zu vereinbaren. Dafür müsse der Tarifvertrag den Leiharbeiter*innen im Gegenzug Vorteile in Bezug auf wesentliche Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen gewähren, um den in der Richtlinie vorgesehenen Gesamtschutz zu gewährleisten. Wenn ein Tarifvertrag einen niedrigeren Lohn für Leiharbeiter*innen vorsieht, könnte dieser im Gegenzug etwa zusätzliche Freizeit gewähren.

Ein Gericht muss im Zweifel konkret beurteilen, ob der Gesamtschutz von Leiharbeitnehmer*innen erfüllt ist. Die wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen auf einem bestimmten Arbeitsplatz eines/einer Stammbeschäftigten muss es mit denen der/des Leiharbeitnehmer*in vergleichen. Es geht darum, ob die gewährten Ausgleichsvorteile es ermöglichen, die Auswirkungen der Ungleichbehandlung auszugleichen.

Das BAG wird auf Grundlage er Rechtsauffassung des EuGH den Rechtsstreit entscheiden.

Der Kommentar

Der EuGH entscheidet im vorliegenden Fall eine wichtige Streitfrage. Wie wichtig sie ist, wird erkennbar, wenn man sich anschaut, in welchen historischen Kontext sie sich einfügt. Anfang der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts wurde mit der Bremer Firma Bindan das erste Leiharbeitsunternehmen in Deutschland gegründet.

Arbeitnehmerüberlassung („Leiharbeit“, „Zeitarbeit“) war ursprünglich gedacht für Fälle, in denen ein Unternehmen nur für einige Tage oder sogar nur einige Stunden zusätzliche Beschäftigte benötigte. Schnell zeigte sich aber, dass Arbeitgeber sie auch als Einsparpotenzial und Flucht vor Arbeitgeberpflichten nutzten.

Erst 1972 regelte die sozialliberale Koalition die Leiharbeit gesetzlich
1972 sah sich die sozialliberale Koalition unter Willy Brandt veranlasst, Leiharbeit gesetzlich zu regeln. Das neue Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) sah vor, dass Arbeitnehmer*innen längstens drei Monate „verliehen“ werden durften. Mit dem sogenannten „Beschäftigungsförderungsgesetz“ des damaligen Bundesarbeitsministers Norbert Blüm 1985 verlängerte der Gesetzgeber die maximale Einsatzdauer auf zunächst sechs Monate. In der Folgezeit erhöhte er sie dann schrittweise auf 24 Monate.

Abbau von Arbeitnehmer*innenrechten durch die Agenda 2010
Und dann kam Anfang 2003 die Agenda 2010 des Kanzlers Gerhard Schröder und seines Wirtschaft- und Arbeitsministers Wolfgang Clement. Sie meinten den Arbeitsmarkt „flexibilisieren“ zu müssen. Ein Euphemismus für den Abbau von Arbeitnehmer*innenrechten. Das „rot-grüne Projekt“ hob mehrere gesetzliche Rahmenbedingungen aus dem AÜG ersatzlos auf, so etwa die Höchstüberlassungsdauer, das Befristungsverbot, das Wiedereinstellungsverbot und das Synchronisationsverbot (Verbot dessen, dass das Leiharbeitsunternehmen die/den Leiharbeitnehmer*in nur für einen konkreten Einsatz beschäftigt).

Positiv wurde darauf hingewiesen, dass die Koalition zugleich das Gleichbehandlungsgebot im Arbeitnehmerüberlassungsrecht einführte („Equal Pay – Equal Treatment“). Indes wurde eine Öffnungsklausel für Tarifverträge implementiert, die ermöglichte, durch Tarifvertrag vom Gleichbehandlungsgebot abzuweichen und Mini-Tarife zu vereinbaren.

Einheitliche Maßstäbe für Leiharbeit durch die Europäische Union
Postwendend traten sogenannte „christliche“ Gewerkschaften auf den Plan (CGZP) und vereinbarten Dumping-Tarife speziell für Leiharbeitnehmer*innen. Dieses Geschäftsmodell funktionierte. Die Liberalisierung führte dazu, dass sich die Anzahl der Leiharbeitnehmer*innen in kürzester Zeit verdoppelte und in vielen Betrieben Stammbeschäftigte verdrängte. Leiharbeit wurde der Königsweg zur Flucht aus den Tarifen der Einsatzbetriebe.

Im November 2008 setzte die EU unionsweit einheitliche Mindeststandards für die Arbeitsbedingungen der Leiharbeitnehmer*innen in der Leiharbeitsrichtlinie 2008/104/EG fest. Jeder Mitgliedstaat ist verpflichtet, sie in sein nationales Recht zu übernehmen. Sie macht u.a. das Gleichbehandlungsgebot „Equal Pay – Equal Treatment“ verbindlich (Artikel 5 der Richtlinie).

Auch die europäische Richtlinie enthält eine Öffnungsklausel: Vom Gleichbehandlungsgebot kann durch Tarifvertrag abgewichen werden, wenn der Gesamtschutz von Leiharbeitnehmer*innen geachtet wird.

Branchenzuschläge sollten das Lohndumping abmildern
2017 gab es dann noch einige Änderungen im AÜG, die auch das Entgelt betreffen. Ein tarifvertragliches Abweichen vom Gleichbehandlungsgrundsatz ist nur noch für neun Monate zulässig. Danach haben Leiharbeitnehmer*innen Anspruch auf die gleiche Vergütung wie eine vergleichbare Stammkraft im Entleihbetrieb. Ein Tarifvertrag kann aber eine geringere Vergütung auch für länger als neun, aber höchstens für 15 Monate ermöglichen, wenn für den Entleihbetrieb tarifliche Regelungen über sogenannte Branchenzuschläge gelten, die sich stufenweise erhöhen und die Bezahlung an die Vergütung von Stammkräften annähern sollen.

Die Ziele der Novelle von 2017 wurden klar verfehlt
Eine Evaluation des AÜG durch den Ausschuss für Arbeit und Soziales des Deutschen Bundestags hat Anfang 2023 ergeben, dass das Gesetz in seiner derzeitigen Form sowohl bei der zeitlichen Begrenzung der Leiharbeit als auch bei der Integration in den ersten Arbeitsmarkt und bei der Gleichstellung von Leiharbeitnehmer*innen beim Entgelt die Ziele der Novelle von 2017 klar verfehlt hat.

Der EuGH hat jetzt klargestellt, wie deutsche Arbeitsgerichte Artikel 5 Absatz 3 der Richtlinie und damit auch die entsprechende Regelung im AÜG auslegen müssen: Sieht ein Tarifvertrag für eine*n Leiharbeitnehmer*in ein geringeres Entgelt vor, ist diese Regelung nur wirksam, wenn der Tarifvertrag im Gegenzug zum Ausgleich Vorteile in Bezug auf wesentliche Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen gewährt, um den in der Richtlinie vorgesehenen Gesamtschutz zu gewährleisten.

Zusammengestellt und kommentiert von Dietmar Christians, Ass. jur., Bremen, 23.01.2023

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