Urteile
Eine offene Videoüberwachung kann zur Kündigung des Arbeitsverhältnisses führen
Orientierungssätze
Es spielt keine Rolle, ob eine Videoüberwachung in jeder Hinsicht den Vorgaben des Bundesdatenschutzgesetzes bzw. der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) entspricht. Selbst wenn dies nicht der Fall ist, können Arbeitsgerichte das Bildmaterial der Videoüberwachung durchaus auswerten. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Datenerhebung offen erfolgt und vorsätzlich vertragswidriges Verhalten zu klären ist.
Gericht
Bundesarbeitsgericht vom 29.06.2023Aktenzeichen
2 AZR 299/22
Der Rechtsstreit
Es geht um einen Arbeitnehmer, der bei seiner Arbeitgeberin als Teamsprecher beschäftigt ist. Sie wirft ihm vor, dass er eine sog. „Mehrarbeitsschicht“ nicht geleistet hat, obwohl er dafür eine Vergütung beansprucht. Ein Arbeitskollege hatte am Werkstor den Werksausweis dieses Beschäftigten vor ein Kartenlesegerät gehalten. Dadurch sollte der Arbeitgeberin Anwesenheit suggeriert werden.
Die Arbeitgeberin hat Unterlagen zur elektronischen Zeiterfassung ausgewertet. Zudem hat eine Videokamera den Vorgang aufgezeichnet. Diese Kamera ist offen und gut sichtbar am Eingang zum Werksgelände angebracht. Zusätzlich weisen Piktogramme darauf hin, dass der Eingang videoüberwacht ist.
Das Arbeitsverhältnis kündigte die Arbeitgeberin zunächst außerordentlich fristlos und mit weiterem Schreiben ordentlich zum Ablauf der Kündigungsfrist. Hiergegen hatte der Arbeitnehmer Klage erhoben und behauptet, er habe am fraglichen Tag tatsächlich gearbeitet. Die Erkenntnisse der Beklagten aus der Videoüberwachung und der elektronischen Anwesenheitserfassung unterlägen zudem einem Sachvortrags- und Beweisverwertungsverbot.
Die Videoüberwachung soll Beschäftigten, die ihren Ausweis vergessen hätten, die Möglichkeit zu geben, in das Werk zu gelangen
Es gebe, so der Kläger, im Betrieb eine Betriebsvereinbarung zur elektronischen Erfassung von Anwesenheitszeiten. Diese regele ausdrücklich, dass keine personenbezogene Auswertung von Daten erfolge. Der Betriebsrat habe zudem keine Kenntnis davon, dass die Videoüberwachung zur Aufzeichnung und Überprüfung von Mitarbeitern dienen soll. Vielmehr solle sie Beschäftigten, die ihren Ausweis vergessen hätten, und Betriebsfremden die Möglichkeit geben, in das Werk zu gelangen.
Über eine Klingel könnte man den Werksschutz kontaktieren. Dieser könne dann aus der Ferne das Werkstor öffnen, nachdem er mittels der Videokamera überprüft habe, wer Einlass begehre. Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht (LAG) haben der Klage stattgegeben und festgestellt, dass die Kündigungen unwirksam sind. Nach Auffassung des LAG habe die Arbeitgeberin nicht hinreichend dargelegt und bewiesen, dass der Kläger während der fraglichen Schicht nicht gearbeitet habe.
LAG: Die Arbeitgeberin darf die mit Hilfe der Videoüberwachung gewonnenen Erkenntnisse nicht in das Verfahren einführen
Der beklagten Arbeitgeberin sei es verwehrt, Daten in das Verfahren einzuführen, die sie mit Hilfe der elektronischen Anwesenheitserfassung durch Betrieb von Kartenlesern gewonnen habe. Das ergebe sich aus der oben genannten Betriebsvereinbarung. Diese regele, dass die elektronische Erfassung von Anwesenheitszeiten nur dazu diene, den Vorgesetzten darüber zu informieren, dass der entsprechende Beschäftigte anwesend sei. Darüber hinaus dürfe die Arbeitgeberin die Daten nicht auswerten.
Die Beklagte dürfe zudem die mit Hilfe der Videoüberwachung gewonnenen Erkenntnisse nicht in das Verfahren einführen. Zu ihren Lasten sei davon auszugehen, dass sie den Kläger in Sicherheit gewiegt und dessen berechtigte „Privatheitserwartung“ verletzt habe. Sie habe im Rahmen ihrer Untersuchungen auf die Daten nämlich erst nach einem Jahr zugegriffen. Sie selbst habe auf einem Schild am Werkstor aber vermerkt, dass die Daten nur 96 Stunden vorgehalten würden.
Zugunsten des Klägers greife zudem ein Beweisverwertungsverbot. Ein solches käme in Frage, weil die Arbeitgeberin gegen die europäische Datenschutzgrundverordnung verstoßen habe.
BAG: Das Gericht muss auch die betreffende Bildsequenz aus der Videoüberwachung am Tor zum Werksgelände in Augenschein nehmen
Die Arbeitgeberin hat gegen das LAG-Urteil Revision beim Bundesarbeitsgericht (BAG) eingelegt. Damit hatte sie Erfolg und das BAG hat die Sache an das LAG zurückverwiesen. Das LAG muss nach Auffassung des BAG nicht nur das zugrunde legen, was die Arbeitgeberin vorgetragen habe. Vielmehr müsse das Gericht auch die betreffende Bildsequenz aus der Videoüberwachung am Tor zum Werksgelände in Augenschein nehmen.
Dies folge aus den einschlägigen Vorschriften des Rechts der Europäischen Union sowie des deutschen Verfahrens- und Verfassungsrechts. Dabei spiele es keine Rolle, ob die Überwachung in jeder Hinsicht den Vorgaben des Bundesdatenschutzgesetzes bzw. der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) entsprochen habe. Selbst wenn dies nicht der Fall gewesen sein sollte, könnten die Arbeitsgerichte das Bildmaterial der Videokamera durchaus auswerten. Dies gelte jedenfalls dann, wenn die Datenerhebung wie hier offen erfolgt und vorsätzlich vertragswidriges Verhalten des Arbeitnehmers zu klären sei.
In einem solchen Fall sei es irrelevant, wie lange die Arbeitgeberin mit der erstmaligen Einsichtnahme in das Bildmaterial gewartet und es bis dahin vorgehalten habe. Das BAG geht jedenfalls davon aus, dass eine offene Videoüberwachung keine schwerwiegende Grundrechtsverletzung ist.
Der Kommentar
Vorsätzlicher Arbeitszeitbetrug rechtfertigt in der Regel eine außerordentliche (fristlose) Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber. Dies gilt gemäß der Rechtsprechung des BAG etwa, wenn ein*e Arbeitnehmer*in vorsätzlich eine Stempeluhr missbraucht oder wissentlich und vorsätzlich Formulare zur Erfassung der Arbeitszeit falsch ausstellt. Dabei kommt es nicht entscheidend auf die strafrechtliche Würdigung an, sondern auf den mit der Pflichtverletzung verbundenen schweren Vertrauensbruch. Der Arbeitgeber muss auf eine korrekte Dokumentation der Arbeitszeit seiner Arbeitnehmer*innen vertrauen können. Überträgt er den Nachweis der geleisteten Arbeitszeit den Arbeitnehmer*innen selbst und füllt ein Arbeitnehmer die dafür zur Verfügung gestellten Formulare wissentlich und vorsätzlich falsch aus, stellt dies in aller Regel einen schweren Vertrauensmissbrauch dar.
Ein schwerer Vertrauensbruch kann eine fristlose Kündigung rechtfertigen
Im vorliegenden Fall wirft die Arbeitgeberin dem Arbeitnehmer vor, er habe sie willentlich und wissentlich über die Erbringung der Mehrarbeitsschicht getäuscht, die er tatsächlich vollständig nicht erbracht hat. Darin liegt – gemessen an der Rechtsprechung des BAG – ein solch schwerer Vertrauensbruch, dass eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses für die Arbeitgeberin nicht mehr zumutbar ist.
Der Arbeitnehmer bestreitet aber, dass er die Mehrarbeitsschicht nicht geleistet hat. Und da sind wir an einem Punkt, der die Sache etwas komplizierter macht. Im Kündigungsschutzverfahren muss grundsätzlich die*der Arbeitgeber*in darlegen und beweisen, dass ein Kündigungsgrund vorliegt. Das bestimmt § 1 Absatz 2 Satz 4 des Kündigungsschutzgesetzes: „Der Arbeitgeber hat die Tatsachen zu beweisen, die die Kündigung bedingen“. Das ist noch relativ einfach, wenn der Arbeitgeber ein bestimmtes Verhalten von Beschäftigten behauptet, mit dem diese ihre Vertragspflichten verletzt haben sollen.
Was den vorliegenden Fall komplizierter macht ist der Umstand, dass die Arbeitgeberin kein konkretes Verhalten des Arbeitnehmers darlegen und beweisen muss, sondern ein „Nicht-Verhalten“: Es kommt darauf an, das Gericht davon zu überzeugen, dass der Arbeitnehmer während der Mehrarbeitsschicht nicht gearbeitet hat. Für derartige Fälle gelten die Grundsätze der abgestuften Darlegungslast.
Der Arbeitnehmer muss im Zweifel erklären, auf welche Weise er auf das Werksgelände gelangt ist
Primär muss auch in diesen Fällen die Arbeitgeberin den Kündigungsgrund darlegen und beweisen. Allerdings genügt sie ihrer primären Darlegungslast schon, indem sie das sogenannte „Negativum“ substantiiert vorträgt. Das hat in unserem Fall die Arbeitgeberin dadurch erfüllt, dass sie vorträgt, dass der Kläger die Mehrarbeitsschicht nicht abgeleistet haben kann, weil er nicht im Werk anwesend gewesen sein kann. Hierfür hat sie als Beweis die Videoaufzeichnung angeboten.
Hat die Arbeitgeberin das „Negativum“ hinreichend dargelegt, muss der Arbeitnehmer seinerseits das „Positivum“ substantiiert darlegen. Er muss mithin im vorliegenden Fall erklären, auf welche Weise er auf das Werksgelände gelangt ist, wenn zur gleichen Zeit ein Arbeitskollege seinen Werksausweis vor den Scanner gehalten hat.
Die Gerichte müssen grundsätzlich den Sachvortrag der Parteien und die von ihnen angebotenen Beweismittel berücksichtigen
Das Gericht muss in diesem Zusammenhang dann prüfen, ob ein „Sachvortragsverbot“ vorliegt. Mit anderen Worten: Darf die Arbeitgeberin hier etwas vortragen, was sie auf nicht legalem Weg erfahren hat?
Es gibt im deutschen Arbeitsgerichtsgesetz oder in der Zivilprozessordnung keine Vorschrift, die die Verwertung von Beweismitteln verbietet, die eine Partei rechtswidrig erlangt hat. Der Anspruch auf rechtliches Gehör gem. Art. 103 Abs. 1 Grundgesetz und der Grundsatz der freien Beweiswürdigung gebieten im Gegenteil nach Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dass die Gerichte den Sachvortrag der Parteien und die von ihnen angebotenen Beweismittel grundsätzlich berücksichtigen.
Ein Sachvortrags- oder Beweisverwertungsverbot kann sich nach ständiger Rechtsprechung des BAG nur aus der Notwendigkeit einer verfassungs- und europarechtskonformen Auslegung des Prozessrechts ergeben. Insoweit ist entscheidend, ob ein Gericht Grundrechte oder durch Unionsrecht geschützte Rechtspositionen einer Partei verletzt, wenn es vorgetragene Tatsachen berücksichtigt, von denen die andere Partei aufgrund einer Rechtsverletzung Kenntnis erhalten hat.
Und insoweit ist schon fraglich, ob in unserem Fall die Arbeitgeberin überhaupt in eine Rechtsposition des Arbeitnehmers eingegriffen hat. Die Videokamera hat ihn gerade nicht gefilmt, sondern vielmehr einen Arbeitskollegen. Aber selbst wenn man davon ausgeht, dass das Erfassen seines Dienstausweises durch die Videokamera datenschutzrechtliche Bedeutung hat, kommt ein Verwertungsverbot hier nicht in Frage. Das wäre nur dann gegeben, wenn die Verwertung durch das Gericht selbst ein Verstoß gegen Grundrechte oder europäische Rechtspositionen wäre. Und das ist in Fällen, in denen eine offene Videoüberwachung die vorsätzlich begangene Pflichtverletzung zeigt, nicht der Fall.
Zusammengestellt und kommentiert von Dietmar Christians, Ass. jur., Bremen, 22.10.2023
© ver.di Bildung + Beratung Gem. GmbH