Wissen für BR, PR, JAV, MAV + SBV

Urteile

Persönliche Assistenz für Menschen mit Behinderung und Altersdiskriminierung

Orientierungssätze

Arbeitnehmer*innen dürfen wegen ihres Alters nicht diskriminiert werden. Das gilt auch für Stellenbewerber*innen. Europäisches und deutsches Recht erlauben aber die Ungleichbehandlung, wenn das Alter wegen der Art der Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche Anforderung darstellt, sofern der Zweck rechtmäßig und die Anforderung angemessen ist. Das kann der Fall sein, wenn individuelle Wünsche einer Person berücksichtigt werden, die wegen ihrer Behinderung Anspruch auf Leistungen der persönlichen Assistenz hat.

  • Gericht

    Europäischer Gerichtshof vom 07.12.2023
  • Aktenzeichen

    C‑518/22

Der Rechtsstreit

Klägerin ist eine 1968 geborene Frau, die sich auf die Stellenanzeige eines bundesweit tätigen Assistenzdienstes bewarb. Dieser verhilft schwerbehinderte Menschen zu persönlichen Assistent*innen, wenn sie nach dem Sozialgesetzbuch IX einen Anspruch darauf haben. Der Assistenzdienst veröffentlichte im Juli 2018 ein Stellenangebot, wonach eine 28-jährige Studentin zu ihrer Unterstützung in allen Lebensbereichen des Alltags persönliche Assistentinnen suchte, die „am besten zwischen 18 und 30 Jahre alt sein“ sollten.

Die Klägerin geht davon aus, wegen ihres höheren Alters diskriminiert worden zu sein
Nachdem die Klägerin eine Absage bekam, machte sie gegen den Assistenzdienst eine Entschädigung geltend und bezog sich dabei auf entsprechende Vorschriften im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (§ 15 Abs. 2 AGG). Sie ging davon aus, dass sie wegen ihres Alters nicht berücksichtigt worden sei. Die ausdrücklich an Assistentinnen im Alter „zwischen 18 und 30 Jahren“ gerichtete Stellenausschreibung begründe die Vermutung, dass sie im Bewerbungsverfahren wegen ihres – höheren – Alters diskriminiert worden sei. Die unterschiedliche Behandlung wegen des Alters sei im Assistenzdienst nicht gerechtfertigt.

Das Arbeitsgericht Köln hat der Klägerin Recht gegeben und den Assistenzdienst zu einer Entschädigung verurteilt, der allerdings Berufung gegen das Urteil eingelegt hat. Er ist der Auffassung, dass eine etwaige Ungleichbehandlung wegen des Alters gerechtfertigt sei. Die Assistenztätigkeit betreffe eine allumfassende Alltagsbegleitung. Im vorliegenden Fall sei ein bestimmtes Alter eine Voraussetzung zur Befriedigung der höchstpersönlichen Bedürfnisse der schwerbehinderten Studentin, damit diese adäquat am sozialen Leben an einer Universität teilnehmen könne.

Weil europäisches Recht maßgeblich ist, hat der EuGH über Rechtsfragen zu entscheiden
Das Landesarbeitsgericht Köln (LAG) gab der Berufung statt. Hiergegen hat die Klägerin Revision beim Bundesarbeitsgericht (BAG) eingelegt. Das Ergebnis des Verfahrens ist insbesondere abhängig von Rechtsfragen, die Richtlinien der Europäischen Union betreffen. Das BAG war deshalb verpflichtet, den Europäischen Gerichtshof (EuGH) um Vorabentscheidung zu ersuchen.

Der EuGH hat im Sinne der schwerbehinderten Studentin entschieden. Die Erbringer persönlicher Assistenzleistungen seien nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet, bei der Gestaltung der persönlichen Assistenz für Menschen mit Behinderungen deren individuellen Wünschen Rechnung zu tragen. Unter diesen Umständen beruhe die Ungleichbehandlung wegen des Alters auf einer im einzelstaatlichen Recht vorgesehenen Maßnahme, die dem europäischen Recht nicht entgegenstünde.

Nachdem jetzt klargestellt ist, dass die deutsche Rechtslage europäisches Recht nicht verletzt, wird das BAG nach deutschen Vorschriften entscheiden müssen. Es ist kaum zu bezweifeln, dass das Gericht zu dem Ergebnis kommen wird, dass eine Ungleichbehandlung wegen des Alters hier gerechtfertigt ist.

Der Kommentar

Es handelt sich hier um einen Fall, in dem sich Rechte gegenüberstehen, die auf europäischer Ebene gewährleistet sind und für alle Mitgliedstaaten gelten. Insoweit sind deren Rechtsvorschriften im Sinne des europäischen Rechts auszulegen und anzuwenden. Wie europäisches Recht auszulegen ist, entscheidet letztlich der EuGH. Die Regel ist, dass ein nationales Gericht, das in letzter Instanz einen Rechtsstreit entscheidet, den EuGH um Vorabentscheidung ersuchen muss, wenn es darum geht, europäische Vorschriften auszulegen.

Die Behindertenrechtskonvention der UN ist wesentlicher Bestandteil der europäischen Rechtsordnung
Um ein solches Verfahren geht es hier. Das BAG hat erkannt, dass es den Rechtsstreit nur nach den deutschen Vorschriften lösen kann, wenn diese nicht entsprechenden europäischen Richtlinien entgegenstehen. Insbesondere handelt es sich um die Richtlinie für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (Gleichbehandlungsrichtlinie), die im Lichte der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Charta) auszulegen ist. Zudem hat die Europäische Union 2011 die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK) ratifiziert. Damit ist sie ein wesentlicher Bestandteil der europäischen Rechtsordnung geworden.

Die Gleichbehandlungsrichtlinie hat der deutsche Gesetzgeber durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) umgesetzt. Nach dem AGG darf niemand unter anderem wegen des Alters diskriminiert werden. Geschieht das gleichwohl, sieht das AGG in § 15 Abs. 2 eine angemessene Entschädigung vor. Wird ein*e Bewerber*in wegen des Alters nicht eingestellt, kann die Entschädigung bis zu drei Monatsgehältern der angestrebten Stelle betragen.

Die Ungleichbehandlung ist keine Diskriminierung, wenn sie objektiv betrachtet notwendig ist
Allerdings bestimmt das AGG, dass eine Ungleichbehandlung wegen des Alters dann keine Diskriminierung darstellt, wenn sie objektiv, angemessen und durch ein legitimes Ziel gerechtfertigt ist. Eine entsprechende Regelung enthält auch die europäische Gleichbehandlungsrichtlinie. Allgemein dürfen Menschen im Berufsleben aufgrund einer wesentlichen und entscheidenden beruflichen Anforderung ungleich behandelt werden, sofern der Zweck rechtmäßig und die Anforderung angemessen ist. Auch das bestimmt sowohl das nationale als auch das europäische Recht.

Erlaubt ist eine Ungleichbehandlung aber nicht bereits, weil ein Arbeitgeber eine bestimmte Altersgruppe bevorzugt, eine Religion nicht mag, eine bestimmte sexuelle Orientierung ablehnt, keine behinderten Menschen beschäftigt oder grundsätzlich keine Frauen einstellen will. Ansonsten würde das Gesetz auch ins Leere laufen. Der Wunsch des Arbeitgebers ist nicht ausschlaggebend, die Ungleichbehandlung muss objektiv betrachtet notwendig sein.

Im vorliegenden Rechtsstreit hat das EuGH jetzt allerdings einen Fall entschieden, in dem der Wunsch auf Arbeitgeberseite doch maßgeblich ist. Es stellt keine Diskriminierung wegen Alters dar, wenn ein Unternehmen, das Assistenzleistungen erbringt, hinsichtlich des Lebensalters potenzieller Bewerber*innen den Wünschen des betroffenen behinderten Menschen nachkommt.

Behinderte Menschen sollen gleichberechtigt alle Menschenrechte und Grundfreiheiten genießen
Die UN-Behindertenrechtskonvention hat zum Ziel, den gleichberechtigten Genuss der Menschenrechte und Grundfreiheiten durch Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten. Mit Inkrafttreten dieser Konvention hat ein Paradigmenwechsel stattgefunden: Ziel der Politik ist nicht mehr die Integration behinderter Menschen in die Gesellschaft. Im Vordergrund steht vielmehr die Erkenntnis, dass behinderte Menschen bereits Teil der Gesellschaft sind, in der sie leben. Nicht der betroffene Mensch muss „angepasst“ und „integriert“ werden. Vielmehr sind es die in einer Gesellschaft vorhandenen physischen und psychischen Barrieren, die beseitigt werden müssen, damit behinderte Menschen am Leben in dieser Gesellschaft möglichst ungehindert und ohne fremde Hilfe teilhaben können. Dieser Ansatz nennt sich Inklusion.

Persönliche Assistenz für Menschen mit Behinderungen ist vor diesem Hintergrund etwas völlig anderes als ein Hilfsangebot, das von sozialen Diensten gewährt wird. Bei der persönlichen Assistenz geht die Initiative vom betroffenen behinderten Menschen aus. Dieser übernimmt selbst die Organisation der Hilfe. Grundsätzlich gibt es zwei Modelle: Der behinderte Mensch stellt die*den Assistent*in selbst ein oder sie*er wird von einem Dienstleister, etwa einer Assistenzgenossenschaft, eingestellt. In beiden Fällen ist der behinderte Mensch aber der*die Vorgesetzte, der*die bestimmt, wann, wo, wie und in welchem Umfang die*der Assistent*in eingesetzt wird.

Arbeitsrechtlich gibt es aus gewerkschaftlicher Sicht einige Probleme
Gesetzlich geregelt ist die persönliche Assistenz als Maßnahme der „sozialen Teilhabe“ im Sozialgesetzbuch IX. Aus gewerkschaftlicher Sicht ist die Situation der persönlichen Assistent*innen nicht unproblematisch. ver.di hat bereits mit Arbeitgeberverbänden entsprechende Tarifverträge abgeschlossen. Allerdings handelt es sich bei den „Assistenznehmer*innen“ nicht um normale Arbeitgeber. Das gilt insbesondere, wenn die betroffenen behinderten Menschen selbst als Arbeitgeber*innen auftreten. Sie müssen die Ausgaben für ihre Assistent*innen aus ihrem persönlichen Budget bestreiten, auf das sie nach dem SGB IX einen Rechtsanspruch haben.

In Berlin haben betroffene behinderte Menschen etwa die „Arbeitsgemeinschaft der Arbeitgeber*innen mit Persönlicher Assistenz (AAPA)“ gegründet, um als Verband mit ihren bei ver.di organisierten Assistent*innen Tarifverhandlungen durchführen zu können. Inzwischen gibt es einen Tarifvertrag zwischen ver.di und AAPA. Die Übernahme der Mehrkosten, die für die behinderten Menschen etwa durch gerechtere Löhne für ihre Assistent*innen entstehen, fordern ver.di und AAPA gemeinsam vom Land Berlin.

Das Verhältnis zwischen Assistent*in und behindertem Menschen unterscheidet sich in einer Weise ganz erheblich von einem „normalen“ Arbeitsverhältnis: Es handelt sich um ein sehr persönliches Verhältnis, das insbesondere den Zweck hat, Menschen mit Behinderungen zu befähigen, ihren Alltag möglichst weitgehend selbstbestimmt und eigenverantwortlich zu gestalten, indem u.a. ihre berechtigten Wünsche berücksichtigt werden.

Die persönliche Assistenz kann das gesamte persönliche, soziale und berufliche Umfeld des behinderten Menschen betreffen
Der EuGH weist in diesem Zusammenhang auf die UN-BRK hin. Diese enthält Regelungen, die es Menschen mit Behinderungen ermöglicht, mit der gleichen Autonomie und den gleichen Wahlmöglichkeiten wie andere Personen zu leben. Sie sollen gleichberechtigt die Möglichkeit haben, ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben, und nicht verpflichtet sein, in besonderen Wohnformen zu leben.

Die Angabe eines bevorzugten Alters von 18 bis 30 Jahren in der Stellenausschreibung hat ihren Grund im individuellen Bedürfnis der behinderten Studentin, eine persönliche Assistenz für ihre Begleitung in allen Bereichen ihres täglichen Soziallebens als 28‑jährige Studentin zu erhalten, hatte der EuGH festgestellt. Eine solche Assistenz berühre somit die Privat- und Intimsphäre mit Blick auf allgemeine Aufgaben, nicht nur die Organisation ihres täglichen Lebens, einschließlich der Planung ihrer höchstpersönlichen Bedürfnisse. Sie betreffe auch das soziale und kulturelle Leben. Das in der Stellenanzeige bevorzugte Alter sei sinnvoll, weil die Assistentin in der Lage sein sollte, sich leicht in das persönliche, soziale und universitäre Umfeld zu integrieren.

Zu Recht ist der EuGH zu dem Ergebnis gekommen, dass hier gemäß europäischer Vorschriften kein Anhaltspunkt für eine Diskriminierung der Klägerin besteht. Auch das BAG wird keine andere Entscheidung treffen. Das Alter dürfte im vorliegenden Fall eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung im Sinne des AGG darstellen.

Zusammengestellt und kommentiert von Dietmar Christians, Ass. jur., Bremen, 28.01.2024

© ver.di Bildung + Beratung Gem. GmbH

nach oben