Urteile
Wer Gewerkschaftsmitglieder bedroht, muss mit einer Kündigung rechnen
Orientierungssätze
Ein Beschäftigter, der in einer Chatgruppe mit 1.000 Mitgliedern Arbeitskolleg*innen bedroht, indem er eine Fotomontage verbreitet, die das Erschießen von Gewerkschaftsmitgliedern assoziiert, kann sich nicht auf Meinungsfreiheit berufen. Eine solche Drohung stellt eine Störung des Betriebsfriedens dar, die eine ordentliche verhaltensbedingte Kündigung rechtfertigt. Die Kündigung ist zudem gerechtfertigt, weil der Arbeitgeber Gewerkschaftsmitglieder bei der Wahrnehmung ihrer Rechte aus Artikel 9 Grundgesetz schützen muss.
Gericht
Arbeitsgericht Berlin vom 07.10.2024Aktenzeichen
59 Ca 8733/24 + 59 Ca 11420/24
Der Rechtsstreit
Das Arbeitsgericht Berlin hatte über den Fall eines Straßenbahnfahrers bei den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG) zu entscheiden. Der Fahrer ist seit 15 Jahren bei der BVG beschäftigt. Er ist alleinerziehender Vater von drei Kindern. Zudem ist er Administrator einer privaten Facebook-Gruppe, die sich an das Fahrpersonal der Arbeitgeberin richtet und circa 1.000 Mitglieder umfasst.
Im Mai 2024 verfasste er einen Kommentar, der sich an die Mitglieder der ver.di-Tarifkommission richtete. An seinen Text hängte er eine Fotomontage, die einen Mann zeigte, der auf dem Boden kniet. Auf den Kopf des Mannes war der Lauf einer Pistole gerichtet. Im Bild waren die Logos von ver.di und der BVG zu sehen. Die Fotomontage trug den Titel „VER.DI HÖRT DEN WARNSCHUSS NICHT!“
Die BVG beabsichtigte, dem Fahrer zu kündigen, weil er Gewerkschaftsmitglieder bedrohte
Sieben Mitglieder von ver.di beschwerten sich bei der Arbeitgeberin über den Beitrag, weil sie sich dadurch bedroht fühlten. Die Personalabteilung der BVG hörte daraufhin den Straßenbahnfahrer zu dem Vorfall an und informierte anschließend den Personalrat über den Sachverhalt und teilte mit, dass die BVG beabsichtige, dem Fahrer zu kündigen. Sodann sprach die Arbeitgeberin eine fristlose und hilfsweise eine fristgemäße Kündigung aus.
Das Arbeitsgericht hält die fristgemäße Kündigung für wirksam. Mit der Fotomontage habe der Straßenbahnfahrer Beschäftigte konkret bedroht. Zwar habe es sich um einen Beitrag in einer privaten Chatgruppe gehandelt. Diese richte sich jedoch ausdrücklich an Fahrpersonal der Arbeitgeberin und verfüge mit rund 1.000 Mitgliedern nicht mehr über einen überschaubaren Adressatenkreis.
Eine konkrete Bedrohung von Kolleg*innen ist nicht durch die Meinungsfreiheit gedeckt
Der Fahrer habe mit dem Beitrag zum einen den Betriebsfrieden gestört. Zum anderen sei der Chat auch auf eine Außenwirkung angelegt gewesen.
Die Fotomontage könne man als Drohung an Beschäftigte verstehen, die sich aktiv für ver.di einsetzten. Sie sei auch als eine solche Bedrohung von ver.di-Mitgliedern aufgefasst worden, wie die Beschwerden der sieben Gewerkschaftsmitglieder zeigten. Der Pistolenlauf auf dem Bild zeige direkt auf den Kopf des abgebildeten Mannes, neben dem auf der Montage das ver.di-Logo abgebildet sei. Eine solche konkrete Bedrohung sei von der Meinungsfreiheit nicht gedeckt. Auch liege hierin eine arbeitsvertragliche Nebenpflichtverletzung, die die Arbeitgeberin nicht hinnehmen müsse. Eine Abmahnung sei daher nicht erforderlich gewesen.
Der Arbeitgeberin ist jedoch zuzumuten, den Straßenbahnfahrer bis zum Ablauf der Kündigungsfrist weiter zu beschäftigen
Die Interessenabwägung habe ergeben, dass eine fristlose Kündigung nicht gerechtfertigt sei. Die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist sei der Arbeitgeberin noch zumutbar. Der gekündigte Fahrer hingegen benötige als alleinerziehender Vater dreier Kinder einen längeren zeitlichen Vorlauf, um eine neue Stelle zu finden.
Hinsichtlich einer fristgemäßen Kündigung sehe es allerdings anders aus. Insoweit überwögen die Interessen der Arbeitgeberin. Diese müsse für den Schutz ihrer Beschäftigten sowohl bei der Ausübung der vertraglich geschuldeten Tätigkeiten wie auch bei der Wahrnehmung ihrer Rechte aus Artikel 9 Grundgesetz sorgen.
Der Kommentar
Das Arbeitsgericht Berlin hatte hier über zwei Kündigungen zu entscheiden: Die Arbeitgeberin wollte einen Straßenbahnfahrer unverzüglich entlassen, weil er Gewerkschaftsmitglieder bedroht hat. Deshalb hat sie eine außerordentliche Kündigung ausgesprochen. Das ist eine Kündigung, bei der die Kündigungsfrist nicht eingehalten werden muss. Unser Arbeitsrecht erlaubt eine solche fristlose Kündigung, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses selbst bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann.
Eine außerordentliche Kündigung muss binnen zwei Wochen ausgesprochen werden
Geregelt ist das im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB), und zwar in § 626 BGB. Eine außerordentliche Kündigung muss zudem innerhalb von zwei Wochen erfolgen, nachdem die*der Kündigende von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen Kenntnis erlangt hat. Insgesamt ist die Hürde sowohl für den Arbeitgeber als auch für die Beschäftigten sehr hoch. Wenn gegen eine außerordentliche Kündigung geklagt wird, stellen Gerichte sehr häufig deren Unwirksamkeit fest.
Für Arbeitnehmer*innen, die ihr Arbeitsverhältnis kündigen wollen, ist das weniger schlimm, weil sie stets wirksam unter Einhaltung der Kündigungsfrist kündigen können. Bei Arbeitsverhältnissen, für die das Kündigungsschutzgesetz Anwendung findet, benötigen Arbeitgeber einen Kündigungsgrund. Im vorliegenden Fall hatte die BVG wegen der Drohung fristlos gekündigt und vorsichtshalber wegen desselben Grundes noch einmal fristgemäß. Das Arbeitsgericht ist zu dem Ergebnis gelangt, dass die fristlose (außerordentliche) Kündigung unwirksam ist, weil die Interessen des Straßenbahnfahrers überwiegen und es der BVG zugemutet werden kann, ihn jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist weiter zu beschäftigen.
Der Straßenbahnfahrer hat Gewerkschaftsmitglieder konkret bedroht
Die fristgemäße (ordentliche) Kündigung hält das Gericht indessen für wirksam. Der Straßenbahnfahrer hat seine Kolleg*innen, die Mitglieder von ver.di sind, durch die gepostete Fotomontage in einer Weise bedroht, die von der Meinungsfreiheit nicht mehr gedeckt ist.
Wir hatten bereits im letzten Jahr von einer Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 24. August 2023 (2 AZR 17/23) berichtet. Auch in dieser Entscheidung ging es um Äußerungen in einer Chatgruppe, die den Arbeitgeber zur Kündigung veranlasst haben. Bei der Entscheidung ging es insbesondere um Meinungsfreiheit und deren Grenzen.
Mit der überragenden Bedeutung der Meinungsfreiheit wäre es unvereinbar, wenn sie im Arbeitsverhältnis nicht gelten würde
Das Recht auf freie Meinungsäußerung gilt selbstverständlich grundsätzlich auch im Arbeitsverhältnis. Das hat das BAG mehrfach betont. Mit der überragenden Bedeutung des Grundrechts wäre es unvereinbar, so das BAG, wenn wir in der betrieblichen Arbeitswelt unsere Auffassungen nur eingeschränkt oder gar nicht äußern dürften. Dabei bestehe der Grundrechtsschutz unabhängig davon, ob eine Äußerung rational oder emotional, begründet oder grundlos sei. Es spiele auch keine Rolle, ob sie von anderen für nützlich oder schädlich, wertvoll oder wertlos gehalten werde.
Aber nicht nur das, was ich sage, ist geschützt. Auch die Form, wie ich mich äußere, schützt das Grundgesetz. Ich darf mich schriftlich äußern, auf Facebook, XING und X oder mich auf den Marktplatz stellen und meine Meinung frei kundtun, wenn es mir denn gefällt. Dabei muss ich nicht einmal höflich sein. Ich darf meine Ansichten polemisch formulieren oder sogar verletzend. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) geht sogar noch weiter: Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit schützt nicht nur das Äußern einer Meinung als solche, sondern auch das geistige Wirken durch die Meinungsäußerung.
Ziel darf nicht sein, den Arbeitgeber, Vorgesetzte oder Arbeitskolleg*innen herabzuwürdigen, zu schmähen oder zu beleidigen
Grundsätzlich gilt das alles auch im Arbeitsverhältnis. Arbeitnehmer*innen dürfen sich sogar kritisch mit den Verhältnissen im Betrieb auseinandersetzen und ihre Meinung insoweit betriebsöffentlich äußern. Ziel darf aber nicht sein, den Arbeitgeber, Vorgesetzte oder Arbeitskolleg*innen herabzuwürdigen, zu schmähen oder zu beleidigen. Diffamierende oder ehrverletzende Äußerungen über Vorgesetzte und/oder Kolleg*innen können durchaus ein Grund für eine Kündigung sein.
Das Grundgesetz sichert das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten (Artikel 5 Absatz 1 GG). Allerdings finden diese Rechte ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutz der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.
Das Recht, die Meinung frei zu äußern, steht in Konkurrenz zu anderen Grundrechten
Auch können die Grundrechte anderer dafür sorgen, dass man seine Meinung im Einzelfall nicht frei äußern darf. Das Recht von Beschäftigten aus Artikel 5 GG steht dabei insbesondere in Konkurrenz zum Grundrecht des Arbeitgebers auf die freie Ausübung seines Berufs, das ihm durch Artikel 12 GG garantiert wird, eventuell auch zum Recht auf Eigentum, in Artikel 14 GG geregelt. Jedenfalls stehen oft Grundrechte in Konkurrenz zueinander. Die Rechtsprechung muss dann im Zweifel diesen Konflikt lösen durch eine Methode, die sich „praktische Konkordanz“ nennt.
Aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) ergeben sich arbeitsvertragliche Pflichten zur gegenseitigen Rücksichtnahme in einem Arbeitsverhältnis. Diese sind gemäß der Rechtsprechung ein allgemeines Gesetz, das gemäß der Werteordnung auszulegen ist, die von den Grundrechten bestimmt wird. Der Arbeitgeber ist etwa verpflichtet, Leben und Gesundheit der Arbeitnehmer*innen zu schützen. Er darf sie nicht maßregeln und muss sie vor Mobbing und Diskriminierung am Arbeitsplatz schützen. Aber auch Arbeitnehmer*innen müssen auf die Interessen des Arbeitgebers Rücksicht nehmen. Ein Kündigungsgrund kann etwa vorliegen, wenn ein Beschäftigter Meinungen auf einer Betriebsversammlung äußert oder sie im Betrieb öffentlich postet, wenn dadurch der Betriebsfrieden ernsthaft gestört wird.
Das Arbeitsgericht war im vorliegenden Fall zum Ergebnis gekommen, dass der Chat des Straßenbahnfahrers geeignet war, den Betriebsfrieden zu stören. Wesentlich für die Kündigung war aber auch, dass der Arbeitgeber Mitglieder von ver.di bei der Wahrnehmung ihrer Rechte aus Artikel 9 Grundgesetz schützen wollte.
Der Straßenbahnfahrer wollte Gewerkschaftsmitglieder wegen ihrer gewerkschaftlichen Tätigkeit einschüchtern
Wie leider häufig insbesondere von neoliberal denkenden Menschen vergessen wird, handelt es sich bei der Ausübung gewerkschaftlicher Rechte auch um ein Grundrecht, das den gleichen Rang hat wie die Meinungsfreiheit oder das Recht auf Eigentum. Artikel 9 Absatz 3 GG schützt nicht nur die Gewerkschaften selbst, sondern auch das Recht von Arbeitnehmer*innen, sich gewerkschaftlich zu betätigen. Und hiergegen hat die Fotomontage nach Auffassung des Arbeitsgerichts gezielt.
Dem ist grundsätzlich Recht zu geben. Es darf nicht sein, dass Beschäftigte durch irgendetwas eingeschüchtert werden, wenn sie sich gewerkschaftlich betätigen. Im vorliegenden Fall verhielt es sich offensichtlich so, dass der Straßenbahnfahrer mit einer Tätigkeit der Tarifkommission nicht zufrieden war. Konkret ging es um das Ergebnis einer Mitgliederbefragung, die dem Fahrer nicht gefiel. Selbstverständlich darf er seinen Unmut auch öffentlich äußern. Mit der Fotomontage ist er aber deutlich über das Ziel hinausgeschossen. Ob im Zweifel angesichts der sozialen Situation des Fahrers eine Abmahnung gereicht hätte, wird vermutlich die nächste Instanz entscheiden.
Zusammengestellt und kommentiert von Dietmar Christians, Ass. jur., Bremen, 24.11.2024
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