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Urteile

Außerordentliche Kündigung wegen des Verdachts, Kokain zu konsumieren

Orientierungssätze

Wenn ein Betriebsratsmitglied während der Arbeitszeit nachweislich ein weißes Pulver mit einer Karte zu einer Linie formt und dann mit einem Röhrchen durch die Nase konsumiert, besteht der dringende Verdacht, dass er*sie im Dienst Kokain geschnupft hat. Das stellt nach Auffassung des LAG Niedersachsen einen wichtigen Grund dar, das Arbeitsverhältnis außerordentlich zu kündigen.

  • Gericht

    Landesarbeitsgericht Niedersachsen vom 06.05.2024
  • Aktenzeichen

    4 Sa 446/23

Der Rechtsstreit

Es geht um zwei außerordentliche Kündigungen. Das Landesarbeitsgericht Niedersachsen (LAG) musste entscheiden, ob zumindest eine dieser Kündigungen wirksam ist.

Bei der Beklagten handelt es sich um eine Logistikgesellschaft. Kläger ist ein Kommissionierer, der seit dem 1. Juni 2002 bei der Beklagten beschäftigt war. Zudem war er freigestelltes Betriebsratsmitglied.

Bei der Beklagten gibt es eine Gesamtbetriebsvereinbarung (GBV) über ein Suchtmittelverbot. In dieser GBV heißt es u.a.: „Innerhalb der Betriebe und an anderen Dienstorten ist jeglicher Konsum von Suchtmitteln wegen der davon ausgehenden Gefahr für Sicherheit und Gesundheit untersagt. Diese Regelung gilt von Arbeitsbeginn bis Arbeitsende, einschließlich der Pausen.“

Ein Kollege beobachtete, wie der Kläger ein weißes Pulver konsumierte

Am 17. August 2022 beobachtete ein anderes Betriebsratsmitglied durch die Scheiben des Betriebsratsbüros, wie der Kläger an seinem Schreibtisch ein weißes Pulver mit einer Karte zu einer Linie formte und dann mit einem Röhrchen durch die Nase konsumierte. Das Betriebsratsmitglied konfrontierte den Kläger noch am selben Tag mit den Beobachtungen. Der Kläger erwiderte, dass es keinen Grund zur Sorge gebe. Bei der Substanz, die er am Schreibtisch konsumiert habe, habe es sich nicht um eine Droge gehandelt.

Das glaubte das andere Betriebsratsmitglied jedoch nicht und informierte die Betriebsleitung am 30. August 2022 über den Vorgang.

Bis zum 4. September 2022 hatte der Kläger Urlaub. Am 6. September 2022 hörten der Betriebsleiter und der Personalreferent den Kläger zu den Beobachtungen des anderen Betriebsratsmitglieds an. Der Kläger erklärte, dass es sich bei der Substanz um Schnupftabak mit Traubenzucker gehandelt habe. Im Nachgang zu dieser Besprechung zeigte der Kläger den beiden Gesprächsteilnehmern eine kleine Flasche mit der Aufschrift „Schneeberg“, die er zuvor aus seinem Büro geholt hatte. Der Betriebsleiter roch an der Flasche und bemerkte einen Geruch von Zitrone.

Der Arbeitgeber würde einen Drogentest bezahlen

Betriebsleiter und Personalreferent schlugen dem Kläger vor, einen Drogentest zu machen. Der Kläger äußerte daraufhin, darüber habe er selbst schon nachgedacht. Er wisse aber nicht, wo er das machen könne. Außerdem sei der Test bestimmt sehr teuer. Nachdem die Vorgesetzten den Kläger darauf hinwiesen, dass er sich beim Hausarzt oder dem Gesundheitsamt würde testen lassen können, meinte dieser, er werde darüber nachdenken, bis zur kommenden Betriebsratssitzung einen Test durchführen zu lassen. Am 8. September 2022 informierte die Beklagte den Kläger, dass die Kosten für einen Drogentest von ihr übernommen werden. Eine Rückmeldung durch den Kläger erfolgte dann nicht mehr.

Die Beklagte beantragte am Tag darauf beim Betriebsrat, der beabsichtigten außerordentlich fristlosen Kündigung des Klägers zuzustimmen. Die Zustimmung erteilte der Betriebsrat in der Sitzung vom 12. September 2022. Diesen Beschluss übergab der Personalreferent dem Kläger am selben Tag. Am folgenden Tag ging dem Kläger die außerordentliche Kündigung schriftlich zu.

Nach Auffassung der Gerichte ist die Kündigung als Verdachtskündigung wirksam

Am 27. September 2022 erhob der Kläger Klage beim Arbeitsgericht Oldenburg (ArbG), das die Klage jedoch abwies. Auch mit der Berufung hatte der Kläger keinen Erfolg. ArbG und Landesarbeitsgericht (LAG) waren beide der Auffassung, dass dem Kläger zwar keine Pflichtwidrigkeit nachgewiesen werden könne, die Kündigung allerdings als Verdachtskündigung wirksam sei.

Es bestehe der dringende Verdacht, dass der Kläger während der Arbeitszeit Kokain konsumiert habe. Die Methode, mit der der Kläger ein weißes Pulver durch die Nase zu sich genommen habe, spreche für den Konsum von Kokain. Der Kläger selbst habe widersprüchliche Angaben gemacht. Zudem sei er einem Drogentest ausgewichen. Auch das Fläschchen mit weißem Pulver, das nach Zitrone roch, entlaste den Kläger nicht. Zwischen dem Vorfall am 17. August 2022 und der Anhörung am 6. September 2022 habe ein Zeitraum gelegen, in welchem es dem Kläger ohne Weiteres möglich gewesen sei, sich eine Geschichte zurechtzulegen und eine Flasche mit „Schneeberg“ zu besorgen.

Der Verdacht einer schweren Straftat ist dazu geeignet, das Vertrauen zum Beschäftigten unwiederbringlich zu zerstören

Der Besitz von Kokain sei eine Straftat. In den Betriebsräumlichkeiten zur Arbeitszeit begangene Straftaten stellten stets einen wichtigen Grund zur außerordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses „an sich“ dar.

Die Interessensabwägung habe ergeben, dass es der Beklagten nicht zuzumuten sei, das Arbeitsverhältnis bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist fortzusetzen. Zugunsten des Klägers spreche zwar seine lange Betriebszugehörigkeit von 20 Jahren und die Unterhaltsverpflichtung für ein Kind. Zu seinen Lasten sei jedoch zu berücksichtigen, dass er einer schweren Straftat dringend verdächtig sei, was das Vertrauen seines Arbeitgebers in die Redlichkeit des Klägers unwiederbringlich zerstört habe.

Der Beschäftigte müsse die Möglichkeit haben, die gegen ihn erhobenen Vorwürfe zu bestreiten oder Tatsachen aufzuzeigen, die den Verdacht entkräften. Diese Möglichkeit habe der Kläger gehabt. Den Verdacht habe er jedoch nicht entkräften können.

Der Kommentar

Der Kläger ist Mitglied im Betriebsrat, weshalb eine ordentliche Kündigung ausgeschlossen ist. Eine außerordentliche Kündigung ist nach § 15 KSchG aber gestattet, wenn Tatsachen vorliegen, die den Arbeitgeber zur Kündigung aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist berechtigen. Darüber hinaus muss eine Zustimmung durch den Betriebsrat vorliegen oder durch gerichtliche Entscheidung ersetzt worden sein.

Im vorliegenden Fall hat der Betriebsrat zugestimmt, obwohl das zunächst auch streitig war. Das spielt in unserem Zusammenhang jedoch keine Rolle.

Der illegale Besitz von Betäubungsmitteln ist eine Straftat

Dem Kläger konnte nicht nachgewiesen werden, dass er in den Räumen des Betriebs eine schwere Straftat begangen hat. Die Gerichte sind dennoch zu der Auffassung gelangt, dass die fristlose Kündigung gerechtfertigt ist, weil der Kläger dringend verdächtig ist, Kokain besessen und im Betrieb konsumiert zu haben.

Wer Betäubungsmittel (BtM) besitzt, ohne zugleich im Besitz einer schriftlichen Erlaubnis für den Erwerb zu sein, wird mit einer Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. So sieht es § 29 des Betäubungsmittelgesetzes (BtMG) vor. Kokain ist ein verkehrsfähiges und verschreibungsfähiges BtM, wie aus Anlage II des BtMG hervorgeht. Damit ist der Besitz von Kokain gemäß der Definition einer europäischen Richtlinie eine schwere Straftat.

Der Arbeitgeber hat das Arbeitsverhältnis fristlos gekündigt, weil er den Verdacht hat, dass der Kläger im Betrieb Kokain konsumiert hat

Eine Verdachtskündigung ist wirksam, wenn objektive Tatsachen den Verdacht begründen, dass ein Arbeitnehmer eine schwerwiegende Pflichtverletzung begangen hat. Es reicht aber nicht, wenn der Arbeitgeber lediglich bloße Vermutungen hat. Im vorliegenden Fall hatte das andere Betriebsratsmitglied gesehen, wie der Kläger ein weißes Pulver in einer Weise konsumiert hat, in der üblicherweise Kokain zu sich genommen wird. Dabei handelt es sich um eine objektive Tatsache, die den Besitz und den Konsum von Kokain nahelegt.

Nicht jede Pflichtverletzung, deren ein*e Beschäftigte*r verdächtigt wird, reicht indessen aus. Sie muss so schwerwiegend sein, dass sie einen wichtigen Grund für eine außerordentliche Kündigung darstellt.

Stellen der Besitz und Konsum von Betäubungsmitteln stets eine arbeitsvertragliche Pflichtverletzung dar?

Interessant ist in unserem Fall, ob der Besitz und Konsum von Kokain eine solche Pflichtverletzung darstellen. Für die kündigungsrechtliche Beurteilung der Pflichtverletzung, auf die sich der Verdacht bezieht, ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) ihre strafrechtliche Bewertung nicht maßgebend. Entscheidend ist der Verstoß gegen vertragliche Haupt- oder Nebenpflichten sowie der damit verbundene Vertrauensbruch. Es gilt im Arbeitsrecht in Zusammenhang mit Kündigungen nämlich nicht das Sanktionsprinzip wie im Strafrecht, sondern vielmehr das Prognoseprinzip.

Zweck einer außerordentlichen Kündigung ist es nicht, ein pflichtwidriges Verhalten zu sanktionieren, sondern das Risiko künftiger Störungen des Arbeitsverhältnisses zu vermeiden. Eine verhaltensbedingte Kündigung ist gerechtfertigt, wenn eine störungsfreie Vertragserfüllung in Zukunft nicht mehr zu erwarten ist und künftigen Pflichtverstößen nur durch die Beendigung der Vertragsbeziehung begegnet werden kann.

Insoweit ist meiner Auffassung nach fraglich, ob aufgrund des angeblichen Konsums von Kokain eine störungsfreie Vertragserfüllung nicht mehr erwartet werden kann. Dabei soll keineswegs der Konsum von Betäubungsmitteln bagatellisiert werden.

Der Verdacht einer schweren Straftat ist hier nicht erhärtet

Insoweit muss man sich genau anschauen, wann und inwieweit illegaler Besitz und Konsum von BtM überhaupt strafbar ist. Bis zum 30. März 2024 gehörte auch Cannabis zu den BtM, deren Besitz strafbar war. Seither ist durch das Konsumcannabisgesetz (KCanG) Volljährigen der Besitz einer geringen Menge von bis zu 25 Gramm, am Wohnsitz sogar 50 Gramm, zum Eigenkonsum erlaubt. Das gilt jedoch für Drogen wie Kokain nicht. Allerdings gibt es auch insoweit Möglichkeiten, die Strafe zu mildern oder sogar von Strafe abzusehen. Das ist etwa dann der Fall, wenn die Schuld des Täters als gering anzusehen ist, kein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung besteht und der Täter die Betäubungsmittel lediglich zum Eigenverbrauch in geringer Menge besitzt.

Der Konsum von Betäubungsmitteln ist in Deutschland nicht strafbar!

Nicht unter Strafe steht nach unseren Gesetzen der Konsum von Kokain. Im vorliegenden Fall wurde der Kläger beschuldigt, Kokain konsumiert zu haben. Das LAG hat aber insoweit ausgeführt, dass der Kläger Kokain zwangsläufig besessen haben muss, wenn er es konsumiert.

Schleierhaft ist, warum hier nicht erörtert wurde, inwieweit hier lediglich von einem Vergehen auszugehen ist, dass kaum strafwürdig ist. Wenn das LAG folgert, dass der Konsum von Kokain dessen Besitz voraussetzt, kann das in unserem Fall allenfalls für eine geringe Menge zum Eigenverbrauch gelten. Von einer größeren Menge hatte der Zeuge nicht berichtet. Warum eine höhere Menge hier vorausgesetzt werden kann, erschließt sich auf den ersten Blick zumindest nicht.

Es gibt im Unternehmen ein Gesamtbetriebsvereinbarung, die bei Drogenmissbrauch mehrere Krisengespräche und Interventionsstufen vorsieht

Selbst wenn man davon ausgeht, dass ein solch eher geringfügiges Vergehen einen Kündigungsgrund „an sich“ darstellt, ist doch eher zweifelhaft, dass der Verdacht dazu geeignet ist, das Vertrauensverhältnis zwischen den Parteien unwiderruflich zu zerstören. Schließlich hätte der Arbeitgeber hier auch zu einem milderen Mittel greifen können. Der Kläger ist keiner Straftat verdächtig, die sich gegen den Arbeitgeber oder gegen Arbeitskolleg*innen richtet. Verstoßen hat der Kläger gegen arbeitsvertragliche Pflichten, weil im Unternehmen eine Gesamtbetriebsvereinbarung über ein Suchtmittelverbot (GBV) gibt.

Diese sieht mehrere Krisengespräche und Interventionsstufen vor, wenn ein Beschäftigter in einem Betrieb des Unternehmens unter Suchtmitteleinfluss steht. Diese GBV hat das LAG zwar auch zur Kenntnis genommen, war jedoch der Auffassung, dass der Verstoß des Klägers so schwerwiegend gewesen sei, dass der Arbeitgeber das Verfahren nach der GBV nicht als milderes Mittel hätte anwenden müssen. Das darf indessen bezweifelt werden.

Das LAG hat es sich etwas einfach gemacht, wenn es meint, der Konsum von Drogen setze deren Besitz voraus

Der Besitz und der Genuss von Drogen sind in Deutschland grundsätzlich nicht strafbar. Der Besitz ist es dann, wenn er entsprechend § 29 BtMG illegal ist. Unabhängig davon stellt der Konsum von Drogen am Arbeitsplatz oder nahe am Arbeitsbeginn sehr häufig in der Tat ein Problem dar, insbesondere wenn der Konsument sich und andere dadurch in Gefahr bringt. Folgerichtig gibt es in den meisten Betrieben deshalb auch die Vorschrift, bei Arbeitsbeginn frei vom Einfluss aller Drogen zu sein.

Das LAG hätte seine rechtliche Beurteilung daher auch auf das Arbeitsrecht beschränken sollen. Das BAG sagt völlig zu Recht in ständiger Rechtsprechung, dass die strafrechtliche Bewertung nicht maßgebend sein soll. Es ist nämlich im vorliegenden Fall fraglich, inwieweit man dem Kläger strafrechtlich überhaupt etwas vorwerfen kann.

Wie bereits erwähnt, ist der Konsum von Kokain anders als der Besitz keine Straftat. Kein Junkie kann in Deutschland verurteilt werden, weil in seinem Blut Rauschmittel nachgewiesen werden. Das LAG macht es sich einfach, wenn es davon ausgeht, dass der Besitz Voraussetzung für den Konsum ist. Das hat zwar eine gewisse Denklogik, korrespondiert aber nicht unbedingt mit der Rechtsprechung der Strafgerichte. Dort ist allgemein anerkannt, dass es etwa beim Erwerb zum sofortigen Konsum noch nicht zum Besitz gekommen ist. Schutzzweck des BtMG ist nach Auffassung der Gerichte nämlich nicht die Gesundheit des einzelnen Abhängigen. Es soll vielmehr insbesondere das „Dealen“ verhindert werden.

Das sind aber Erwägungen aus dem Strafrecht, von dem wir Arbeitsrechtler besser unsere Finger lassen. In unserem Zusammenhang ist wichtig, dass es hier keine objektiv nachweisbaren Tatsachen gibt, die den Verdacht einer schweren Straftat nahelegen, die das Vertrauensverhältnis zwischen den Parteien nachhaltig stört.

Zusammengestellt und kommentiert von Dietmar Christians, Ass. jur., Bremen, 01.09.2024

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