Urteile
Diskriminierung von Teilzeitbeschäftigten bei Überstundenzuschlägen
Orientierungssätze
Eine tarifvertragliche Regelung, die Überstundenzuschläge nur vorsieht, wenn die regelmäßige Arbeitszeit eines*einer Vollzeitbeschäftigten überschritten wird, verstößt gegen das Verbot der Diskriminierung Teilzeitbeschäftigter, wenn die Ungleichbehandlung nicht durch sachliche Gründe gerechtfertigt ist. Fehlen solche Gründe und sind unter den Teilzeitbeschäftigten deutlich mehr Frauen als Männer, liegt zugleich ein Verstoß gegen das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) wegen mittelbarer Diskriminierung von Frauen vor.
Gericht
Bundesarbeitsgericht vom 05.12.2024Aktenzeichen
8 AZR 370/20 und 8 AZR 372/20
Der Rechtsstreit
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hatte darüber zu entscheiden, ob zwei Arbeitnehmerinnen als Teilzeitbeschäftigte unmittelbar und als Frauen mittelbar von ihrem Arbeitgeber diskriminiert wurden.
Arbeitgeber ist ein Kuratorium für Dialyse und Nierentransplantation mit ärztlichen und nicht-ärztlichen Beschäftigten, das seine Dienstleistung bundesweit ambulant an verschiedenen Standorten anbietet. Von seinen über 5.000 Beschäftigten sind 76,96 % Frauen. 52,78 % der Arbeitnehmer*innen sind teilzeitbeschäftigt. Knapp 85 % davon sind Frauen. Unter den Vollzeitbeschäftigten macht der Frauenanteil etwa 68 % aus.
Der Tarifvertrag sieht Überstundenzuschläge nur für Mehrarbeit vor, die über die monatliche Arbeitszeit eines*einer vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmers*Arbeitnehmerin hinaus geleistet wird
In den Verfahren geht es um zwei Klägerinnen, die in Teilzeit beschäftigt sind. Für beide wird ein Arbeitszeitkonto geführt, das jeweils zum Ende des Monats März 2018 ein erhebliches Arbeitszeitguthaben aufwies. Hierbei handelt es sich um die von den Klägerinnen über die arbeitsvertraglich vereinbarte Arbeitszeit hinaus geleistete Stunden.
Auf die Arbeitsverhältnisse findet aufgrund arbeitsvertraglicher Bezugnahme der zwischen dem Arbeitgeber und der Gewerkschaft ver.di geschlossene Manteltarifvertrag (MTV) Anwendung. Dieser sieht einen Überstundenzuschlag für Mehrarbeit vor, die über die monatliche Arbeitszeit eines*einer vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmers*Arbeitnehmerin hinaus geleistet wird und die im jeweiligen Kalendermonat nicht durch Freizeitgewährung ausgeglichen werden kann.
Beide Teilzeitbeschäftigte haben Klage vor dem Arbeitsgericht Fulda erhoben. Sie sind der Auffassung, dass der MTV sie wegen ihrer Teilzeit unzulässig gegenüber vergleichbaren Vollzeitbeschäftigten benachteiligt. Zugleich würden sie wegen ihres Geschlechts mittelbar benachteiligt, denn der Beklagte beschäftige überwiegend Frauen in Teilzeit. Sie verlangen, dass ihrem Arbeitszeitkonto als Überstundenzuschläge weitere 38 Stunden und 39 Minuten gutgeschrieben wird und zudem, dass der Arbeitgeber ihnen eine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG in Höhe eines Vierteljahresverdienstes zahlt.
Weil Europäisches Recht betroffen ist, muss das BAG die Angelegenheit dem Europäischen Gerichtshof vorlegen
Das Arbeitsgericht hat die Klagen abgewiesen. Vor dem Landesarbeitsgericht Hessen (LAG) hatten sie indessen teilweise Erfolg. Ihnen wurde die verlangte Zeitgutschrift zuerkannt. Hinsichtlich der begehrten Entschädigung hat es jedoch die Klageabweisung bestätigt.
Die Klägerinnen hatten gegen diese Entscheidung Revision eingelegt. Mit Beschluss vom 28. Oktober 2021 hatte das BAG das Revisionsverfahren ausgesetzt und den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) um die Beantwortung von Rechtsfragen betreffend der Auslegung des Unionsrechts ersucht. Dies hat der EuGH mit Urteil vom 29. Juli 2024 getan.
Das BAG hat daraufhin das Urteil des LAG bestätigt und den Klägerinnen die verlangte Zeitgutschrift zugesprochen. Darüber hinaus hat es ihnen eine Entschädigung in Höhe von jeweils 250,00 Euro zuerkannt.
Die Klägerinnen wurden als Teilzeitbeschäftigte unmittelbar und als Frauen mittelbar diskriminiert
Das BAG hält – auf Grundlage der Vorgaben des EuGH – die Regelung im MTV wegen Verstoßes gegen das Verbot der Benachteiligung von Teilzeitbeschäftigten für unwirksam, insoweit sie bei Teilzeitbeschäftigung keine der Teilzeitquote entsprechende anteilige Absenkung der Grenze für die Gewährung eines Überstundenzuschlags vorsieht. Einen sachlichen Grund für diese Ungleichbehandlung sah das Gericht nicht. Daher ergebe sich aus § 4 Abs. 1 Teilzeit- und Befristungsgesetz (TzBfG), dass die tarifvertragliche Überstundenzuschlagsregelung unwirksam sei. Das führe zu einem Anspruch der Klägerinnen auf die eingeklagte weitere Zeitgutschrift.
Die Klägerinnen hätten aber auch eine mittelbare Benachteiligung wegen des Geschlechts erfahren. Von den Teilzeitbeschäftigten, die dem persönlichen Anwendungsbereich des MTV unterfallen, seien ganz überwiegend Frauen. Als Entschädigung sei ein Betrag von 250,00 Euro festzusetzen. Dieser sei erforderlich, aber auch ausreichend, um einerseits den der Klägerin durch die mittelbare Geschlechtsbenachteiligung entstandenen immateriellen Schaden auszugleichen und andererseits gegenüber dem Beklagten die gebotene abschreckende Wirkung zu entfalten.
Der Kommentar
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hatte den Europäischen Gerichtshof (EuGH) im Dezember 2021 um Vorabentscheidung ersucht. Das ist ein Verfahren, das sich aus dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) ergibt (Artikel 267 AEUV). Danach entscheidet der EuGH im Wege der Vorabentscheidung über die Auslegung der Verträge der EU und über die Auslegung der Rechtsakte, die von Organen der EU erlassen worden sind.
Ein Instanzgericht, dessen Entscheidung noch angefochten werden kann, kann dem Gerichtshof Fragen zur Auslegung zur Entscheidung vorlegen. Geht es um ein Gericht, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, so ist dieses Gericht zur Anrufung des EuGH verpflichtet. Und so hat es sich im vorliegenden Fall verhalten.
Betroffen sind eine Vertragsvorschrift und zwei Richtlinien der EU
Das BAG war im Oktober 2021 zu dem Ergebnis gekommen, dass zum einen Artikel Art. 157 AEUV betroffen ist. In dieser Vorschrift verpflichtet die EU die Mitgliedstaaten, die Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit sicherzustellen. Zum anderen war aber auch eine Richtlinie der EU betroffen. Diese trägt den etwas umständlichen Namen „Richtlinie 2006/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2006 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen“.
Des Weiteren ging es noch um eine „Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit im Anhang der Richtlinie 97/81/EG“. Dabei handelt es sich um eine Rahmenvereinbarung, die der Europäische Gewerkschaftsbund mit europäischen Arbeitgeberverbänden geschlossen hat. Diese Vereinbarung hat die EU mit der Richtlinie 97/81/EG – untechnisch gesagt – ins Europäische Recht übernommen.
Mitgliedstaaten der EU müssen den Inhalt von Richtlinien innerhalb bestimmter Fristen in das nationale Recht übernehmen
Richtlinien sind Teil des sogenannten „Sekundärrechts“ der EU. Das „Primärrecht“ besteht aus den institutionellen Bestimmungen der EU, also etwa aus den Verträgen. Beim „Sekundärrecht“ handelt es sich um Rechtsakte, die auf Grundlage des „Primärrechts“ erlassen wurden, also etwa um Richtlinien und Verordnungen.
Im Gegensatz zu Verordnungen der EU gelten Richtlinien nicht unmittelbar in den Mitgliedstaaten. Sie enthalten vielmehr eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten, ihre Regeln in nationales Recht zu übernehmen. In Zusammenhang mit der Gleichbehandlung der Geschlechter hat das der deutsche Gesetzgeber mit dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) und hinsichtlich der Teilzeitarbeit mit dem Teilzeit- und Befristungsgesetz (TzBfG) gemacht.
Das BAG hatte Zweifel, ob europäisches Recht es zulässt, Zuschläge für Überstunden erst ab „Vollzeit“ zu zahlen
Das BAG hat mit der Entscheidung von Oktober 2021 dem EuGH fünf Fragen vorgelegt, die die Auslegung der oben genannten Vorschiften betrafen. Im wesentlich wollte das BAG vom EuGH wissen, ob eine nationale tarifvertragliche Regelung, nach der die Zahlung von Überstundenzuschlägen nur für Arbeitsstunden vorgesehen ist, die über die regelmäßige Arbeitszeit eines*einer vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmers*Arbeitnehmerin hinaus gearbeitet haben, eine Ungleichbehandlung von Vollzeitbeschäftigten und Teilzeitbeschäftigten enthält.
Mit der Entscheidung vom Juli 2024 hat der EuGH festgestellt, dass eine nationale Regelung, nach der die Zahlung von Überstundenzuschlägen an Teilzeitbeschäftigte nur für die Arbeitsstunden vorgesehen ist, die über die regelmäßige Arbeitszeit von vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmern hinaus gearbeitet werden, eine „schlechtere“ Behandlung von Teilzeitbeschäftigten darstellt und damit gegen europäisches Recht verstößt.
Zudem entschied der EuGH, dass eine nationale Regelung, nach der die Zahlung von Überstundenzuschlägen an Teilzeitbeschäftigte nur für die Arbeitsstunden vorgesehen ist, die über die regelmäßige Arbeitszeit von vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmern hinaus gearbeitet werden, eine mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts darstellt, wenn erwiesen ist, dass diese Regelung einen signifikant höheren Anteil von Personen weiblichen Geschlechts als Personen männlichen Geschlechts benachteiligt.
Der Gerichtshof hat ausdrücklich erklärt,
- dass dabei unerheblich ist, ob unter den Vollzeitbeschäftigten gleichzeitig erheblich mehr Männern als Frauen sind, und
- dass eine solche Diskriminierung nicht dadurch gerechtfertigt werden kann, dass das Ziel verfolgt wird, den Arbeitgeber davon abzuhalten, für Arbeitnehmer Überstunden anzuordnen, die über die individuell in ihren Arbeitsverträgen vereinbarte Arbeitszeit hinausgehen.
Entfaltet eine relativ geringe Entschädigung gegenüber dem Arbeitgeber die gebotene abschreckende Wirkung?
Auf Grundlage der so vom EuGH festgestellten Rechtslage hat das BAG jetzt entschieden, dass den Klägerinnen die beantragte Zeitgutschrift zusteht. Eine Entscheidung, die sehr zu begrüßen ist.
Darüber hinaus hat das Gericht Beiden jeweils eine Entschädigung von 250,00 Euro zugesprochen, weil sie als Frauen diskriminiert worden sind. Diesen Betrag hält das BAG für notwendig, aber auch für ausreichend, um einerseits den entstandenen immateriellen Schaden auszugleichen und andererseits gegenüber dem Arbeitgeber die gebotene abschreckende Wirkung zu entfalten.
Wenn durch eine Diskriminierung wegen des Geschlechts ein Schaden entstanden ist, steht den Betroffenen Schadensersatz zu. Das regelt § 15 Absatz 1 AGG. Es gibt aber auch Schädigungen, die nicht das zu berechnende Vermögen betreffen, sogenannte immaterielle Schäden. Etwa Schmerzen, die ein Opfer zu erdulden hatte. Grundsätzlich kann wegen eines Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, eine Entschädigung in Geld nur verlangt werden, wenn es das Gesetz gesondert bestimmt. Im Fall der Diskriminierung regelt das § 15 Absatz 2 AGG: Bei einem Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot kann die*der Geschädigte wegen eines Schadens, der kein Vermögensschaden ist, eine angemessene Entschädigung in Geld verlangen.
Was angemessen ist, verrät uns das Gesetz nicht. Es gibt lediglich für einen speziellen Fall eine Obergrenze vor: führt eine Diskriminierung dazu, dass jemand nicht eingestellt wird, darf die Entschädigung drei Monatsgehälter nicht übersteigen, wenn der*die Beschäftigte auch bei benachteiligungsfreier Auswahl nicht eingestellt worden wäre.
Es darf indessen bezweifelt werden, ob eine Entschädigung von 250,00 Euro einen Arbeitgeber mit 5000 Beschäftigten ernsthaft davon abhält, Frauen mittelbar zu diskriminieren.
Zusammengestellt und kommentiert von Dietmar Christians, Bremen, 24.01.2025
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