Urteile
Präventionsverfahren bei schwerbehinderten Arbeitnehmer*innen vom ersten Tag an
Orientierungssätze
Ergeben sich Schwierigkeiten im Arbeitsverhältnis mit einem schwerbehinderten Menschen, muss der Arbeitgeber ein Präventionsverfahren durchführen. Diese Pflicht ist nach Auffassung des LAG Köln nicht auf den Zeitraum nach Ablauf der Wartezeit des Kündigungsschutzgesetzes beschränkt. Wird das Präventionsverfahren nicht durchgeführt, kann das die Vermutung begründen, dass eine Kündigung wegen der Behinderung ausgesprochen wurde und deshalb nichtig ist.
Gericht
Landesarbeitsgericht Köln vom 12.09.2024Aktenzeichen
6 SLa 76/24
Der Rechtsstreit
Es geht um den Beschäftigten eines Bauhofs. Er ist schwerbehindert mit einem Grad von 80. Das Arbeitsverhältnis wurde vom Arbeitgeber, einer Gemeinde, innerhalb der ersten sechs Monate des Arbeitsverhältnisses gekündigt. Der Beschäftigte erhob Kündigungsschutzklage.
Die Gemeinde hatte vor der Kündigung kein Präventionsverfahren durchgeführt. Das Gesetz schreibt ein solches Verfahren vor, wenn im Arbeitsverhältnis eines schwerbehinderten Menschen Schwierigkeiten auftreten. Es handelt sich um ein kooperatives Klärungsverfahren, das der Arbeitgeber unter Beteiligung internen und externen Sachverstandes (Schwerbehindertenvertretung, Integrationsamt, Rehabilitationsträger) durchführen muss, wenn der Arbeitsplatz der*des schwerbehinderten Arbeitnehmer*in gefährdet ist. Das regelt § 167 des neunten Sozialgesetzbuches (SGB IX).
Das Bundesarbeitsgericht vertritt bislang die Auffassung, dass in den ersten sechs Monaten des Arbeitsverhältnisses kein Präventionsverfahren durchzuführen ist
Führt ein Arbeitgeber vor der Kündigung kein Präventionsverfahren durch, wird vermutet, dass der Arbeitgeber die*den schwerbehinderten Arbeitnehmer*in diskriminiert hat. Die Kündigung kann deshalb unwirksam sein. Allerdings hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) bislang die Auffassung vertreten, dass während der Wartezeit des Kündigungsschutzgesetzes (KSchG) der Arbeitgeber nicht verpflichtet ist, ein Präventionsverfahren durchzuführen. Nach § 1 Absatz 1 KSchG kann eine Kündigung nur sozialwidrig sein, wenn das Arbeitsverhältnis in demselben Betrieb oder Unternehmen ohne Unterbrechung länger als sechs Monate bestanden hat. Besteht das Arbeitsverhältnis kürzer, braucht der Arbeitgeber keinen Kündigungsgrund.
Entgegen der Auffassung des BAG hat das Landesarbeitsgericht Köln (LAG Köln) jetzt im vorliegenden Fall eine andere Auffassung vertreten. Die Pflicht besteht vielmehr nach Ansicht des LAG auch schon in den ersten sechs Monaten des Arbeitsverhältnisses.
Das Gesetz beschränkt die Pflicht zur Prävention zeitlich nicht
Die vom BAG vorgenommene zeitliche Begrenzung ergebe sich weder aus dem Wortlaut der Vorschrift, noch stütze eine Auslegung der gesetzlichen Bestimmungen dieses Ergebnis. Das BAG habe angenommen, es sei problematisch, ein Präventionsverfahren innerhalb der ersten sechs Monate zum Abschluss zu bringen. Das sah das LAG zwar auch so. Nach seiner Auffassung könnten aber Beweiserleichterungen für den Arbeitgeber dazu diesen, die Wartezeitkündigung gegenüber einem schwerbehinderten Menschen nicht faktisch vollständig auszuschließen.
Kein Präventionsverfahren bedeutet aber nicht, dass eine Kündigung unwirksam ist
Die Kündigung im vorliegenden Fall hielt das LAG aber für wirksam, da der unstreitige Sachverhalt keine Diskriminierung des Beschäftigten erkennen ließ. Die Gemeinde habe die Kündigung in der Probezeit damit begründet, dass sich für sie aus den Berichten der Kolonnenführer ergeben habe, dass der Beschäftigte für die arbeitsvertraglich geschuldete Tätigkeit nicht geeignet gewesen sei. Diese hatten geäußert, dass der Beschäftigte sich weder um Arbeitssicherheit bemüht habe noch um Kollegialität und Weisungstreue.
Seine Behinderung habe schon deshalb für die Kündigung keine Rolle spielen können, weil die Gemeinde von der Art der Beeinträchtigung erst nach Ausspruch der Kündigung erfahren habe. Daher habe die Arbeitgeberin die Mängel gar nicht auf die Schwerbehinderung des Beschäftigten zurückführen können.
Der Kommentar
Das LAG hat zutreffend nicht entschieden, dass die Kündigung unwirksam ist, weil die Arbeitgeberin kein Präventionsverfahren durchgeführt hat. Eine solche Konsequenz regelt das Gesetz nämlich nicht.
Es geht vielmehr um Inklusion und um Maßnahmen gegen Diskriminierung. Das Präventionsverfahren soll dazu beitragen, vermeidbare Barrieren am Arbeitsplatz abzubauen. Behinderung wird nach neuerem Verständnis nicht mehr als Eigenschaftspotenzial aufgefasst, sondern als soziale Beziehung. Sie entsteht aus definierten Aktivitäten von interagierenden Personen in sozialen Situationen. Der moderne Behindertenbegriff setzt bei den Eingliederungsschwierigkeiten und der gesellschaftlichen Verantwortung für die Beseitigung der Barrieren an. Kurzum: Behindert ist man nicht, behindert wird man durch Barrieren, die einem unnötigerweise in den Weg gelegt werden.
Die Probezeit dient für beide Vertragspartner dazu, festzustellen, ob das Vertragsverhältnis „passt“
Das Präventionsverfahren soll dazu dienen, solche Barrieren möglichst frühzeitig zu erkennen und weitestgehend zu beseitigen, bevor das Arbeitsverhältnis überhaupt ernsthaft wegen der Barrieren in Gefahr gerät. Barrieren können dabei sowohl konkrete physische Barrieren sein, aber auch aus Vorurteilen bestehen.
Nicht mehr Integration, sondern Inklusion ist seit einigen Jahren das Ziel aller Behindertenpolitik. Diese berücksichtigt, dass Menschen mit körperlichen, seelischen oder geistigen Beeinträchtigungen bereits Teil der Gesellschaft sind, in die sie nicht erst integriert werden müssen. Insoweit ergibt es Sinn, möglichst frühzeitig mit Präventionsmaßnahmen zu beginnen, bevor sich Schwierigkeiten im Arbeitsverhältnis zeigen. Und das auch und gerade in einer Probezeit, die ja nicht nur den Arbeitgebern dienen soll. Vielmehr ist sie dazu da, festzustellen, inwieweit ein Arbeitsplatz aus Sicht beider Vertragsparteien „passt“. Und dazu gehört auch die Beseitigung von unnötigen Barrieren.
Die Pflicht zur Prävention darf nicht dazu führen, dass es für schwerbehinderte Menschen keine Probezeit gibt
Das BAG hat mit Blick auf Kündigungen strukturelle Probleme gesehen, die nicht ganz von der Hand zu weisen sind: Ein Präventionsverfahren ist kaum in kurzer Zeit durchzuführen. Das könnte dazu führen, dass es bei schwerbehinderten Menschen faktisch keine Probezeit mehr gibt, weil das Arbeitsverhältnis bereits länger als sechs Monate besteht, wenn ein Präventionsverfahren durchgeführt ist.
Das relativiert sich indessen, wenn klar wird, welche Rolle das Präventionsverfahren kündigungsrechtlich überhaupt spielt. Wie bereits dargelegt, führt das Fehlen eines solchen Verfahrens niemals dazu, dass die Kündigung eines schwerbehinderten Menschen unwirksam ist.
Nur in wenigen Fällen würde das Ausbleiben von Präventionsmaßnahmen in der Probezeit zur Unwirksamkeit der Kündigung führen
Das Fehlen von Präventionsmaßnahmen könnte aber ein Indiz dafür sein, das eine Benachteiligung wegen Behinderung vermuten lässt. § 22 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) regelt insoweit eine Umkehr der Beweislast: Der Arbeitgeber muss nachweisen, dass die Behinderung kein Grund für die Kündigung war. Das stellte im vorliegenden Fall keine hohe Hürde dar: Der Beschäftigte verhielt sich in der Probezeit vertragswidrig und für den Arbeitgeber gab es keinen Hinweis, dass das Verhalten irgendetwas mit der Behinderung zu tun hatte.
Der Arbeitgeber muss vor Ablauf von sechs Monaten keine Gründe darlegen, die eine Kündigung nach dem KSchG begründen würden. Es reicht völlig, wenn er Gründe nennt, die ihn zur Kündigung in der Probezeit veranlasst haben und die nichts mit körperlichen, geistigen oder seelischen Beeinträchtigungen des Beschäftigten zu tun haben, die ihm bekannt sind.
Und das wird auch der Regelfall sein. Gerade in Zeiten von Arbeitskräftemangel ist kaum vorstellbar, dass verständige Arbeitgeber auf Mitarbeiter*innen verzichten, wenn sie nach der Beseitigung von Barrieren keine Hemmnisse am Arbeitsplatz mehr haben. Insoweit dient die frühzeitige Prävention sowohl Arbeitnehmer*innen als auch Arbeitgebern.
Zusammengestellt und kommentiert von Dietmar Christians, Ass. jur., Bremen, 06.10.2024
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