Urteile
Zählen Urlaubsstunden für Mehrarbeitszuschläge?
Orientierungssätze
Langen Atem bewies ein in Vollzeit beschäftigter Leiharbeitnehmer. Seine Arbeitgeberin wollte ihm keine Mehrarbeitszuschläge für Stunden zahlen, in denen er seinen bezahlten Jahresurlaub in Anspruch nimmt. Über fünf Jahre musste der Arbeitnehmer prozessieren, bevor das Bundesarbeitsgericht ihm Recht gab.
Gericht
Bundesarbeitsgericht vom 16.11.2022Aktenzeichen
10 AZR 210/19
Der Rechtsstreit
Ein Koch, der bei einem Leiharbeitsunternehmen angestellt ist, stritt sich mit seinem Arbeitgeber um die Bezahlung von Zuschlägen für Mehrarbeit. Auf das Arbeitsverhältnis ist der Manteltarifvertrag (MTV) für die Zeitarbeit anzuwenden, da der Kollege gewerkschaftlich organisiert und seine Arbeitgeberin Mitglied im einschlägigen Arbeitgeberverband ist. Der MTV sieht vor, dass Mehrarbeitszuschläge in Höhe von 25 Prozent für Zeiten zu zahlen sind, die im jeweiligen Kalendermonat über eine bestimmte Zahl geleisteter Stunden hinausgehen. Es kommt insoweit auf die Anzahl der Arbeitstage im jeweiligen Monat an.
Mehrarbeitszuschläge müssen gemäß § 4 MTV für Zeiten gezahlt werden, die in Monaten mit – 20 Arbeitstagen über 160 geleistete Stunden – 21 Arbeitstagen über 168 geleistete Stunden – 22 Arbeitstagen über 176 geleistete Stunden – 23 Arbeitstagen über 184 geleistete Stunden hinausgehen.
Kläger begehrt Mehrarbeitszuschläge für abgerechnete Urlaubsstunden
Im August 2017, der 23 Arbeitstage hatte, arbeitete der Arbeitnehmer 121,75 Stunden und nahm 10 Tage Urlaub in Anspruch, die die Arbeitgeberin mit 84,7 Stunden abrechnete. Insgesamt rechnete sie also 206,45 Stunden ab. Nach dem MTV hätte die Arbeitgeberin dem Koch also für 22,45 Stunden Mehrarbeitszuschläge zahlen müssen. Das lehnte sie aber ab. Sie war der Auffassung, dass Zuschläge nur für tatsächlich geleistete Stunden zu zahlen seien. Urlaubszeiten müssten unberücksichtigt bleiben.
Nachdem eine außergerichtliche Einigung scheiterte, erhob der Arbeitnehmer Leistungsklage beim Arbeitsgericht Dortmund. Er begründete diese damit, dass als geleistete Stunden im Sinne des MTV alle Stunden anzusehen seien, für die ein Entgelt zu zahlen sei. Es könne nicht angehen, dass Arbeitnehmer*innen benachteiligt würden, die in einem Monat zum Teil Urlaub hätten oder arbeitsunfähig krank seien. Dies ergebe sich aus der zwingenden gesetzlichen Regelung hinsichtlich Urlaubsvergütung und Entgeltfortzahlung bei Arbeitsunfähigkeit.
Das Arbeitsgericht wies die Klage mit der Begründung ab, dass die tarifliche Regelung keine Anhaltspunkte dafür enthielte, dass alle vergüteten Stunden als geleistete Stunden anzusehen seien. Auch stelle die tarifliche Regelung keine unzulässige Benachteiligung der Arbeitnehmer*innen dar, die während eines Monats teilweise Urlaub nehmen würden oder arbeitsunfähig krank seien.
Das Landesarbeitsgericht Hamm macht „kurzen Prozess“ und entscheidet gegen den Arbeitnehmer
Das Gericht ließ allerdings die Berufung zu, sodass der Arbeitnehmer Rechtsmittel gegen das Urteil einlegen konnte. Das Landesarbeitsgericht Hamm (LAG) hielt sich indessen nicht lange mit der Sache auf, sondern bestätigte die Entscheidung des Arbeitsgerichts mit gerade mal knapp 15 Zeilen Begründung. Es war der Auffassung, dass der im Tarifvertrag verwendete Begriff „geleistete Stunden" ausschließlich auf ein aktives Tun ausgerichtet sei. Urlaubszeiten, in denen der Arbeitnehmer davon gerade – unter Fortzahlung seiner Vergütung – befreit sei, ließen sich darunter bei Zugrundelegung des allgemeinen Sprachgebrauchs nicht subsumieren.
Das Gericht ging davon aus, dass Zweck der Tarifnorm sei, besondere Belastungen abzudecken, die mit einem – grundsätzlich zu vermeidenden – überdurchschnittlichen tatsächlichen Arbeitseinsatz verbunden seien. Weil solche Erschwernisse während Urlaubszeiten im Bemessungszeitraum nicht auftreten würden, sei es sachgerecht, bei der tariflich vorgegebenen Belastungsgrenze für die Gewährung von Mehrarbeitszuschlägen ausschließlich auf tatsächlich geleistete Stunden abzustellen.
Das Bundesarbeitsgericht legt die Rechtsfrage dem Europäischen Gerichtshof vor
Das LAG sah keine Gründe, die Revision zum Bundesarbeitsgericht (BAG) zuzulassen. Indessen legte der Kläger erfolgreich Nichtzulassungsbeschwerde (NZB) beim BAG ein. Das BAG erkannte, dass europäisches Recht betroffen war und rief im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens den Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg an.
Erfolgreiche gewerkschaftliche Prozessvertretung vor dem EuGH
Den Arbeitnehmer vertrat der Kollege Rudolf Buschmann vom Centrum für Revision und Europäischen Recht der DGB Rechtsschutz GmbH. Im Januar 2022 entschied der EuGH zu seinen Gunsten. Die Richtlinie der Europäischen Union über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung schreibe vor, dass auch Stunden anzurechnen seien, die dem vom Arbeitnehmer in Anspruch genommenen bezahlten Jahresurlaub entsprächen, so die Luxemburger Richter*innen.
Nach fünf Jahren bekommt der Arbeitnehmer endlich Recht
Mit Urteil vom 16. November 2022 setzte das BAG die Vorgaben des EuGH um. Die Regelung des MTV müsse bei gesetzeskonformer Auslegung so verstanden werden, dass bei der Berechnung von Mehrarbeitszuschlägen nicht nur tatsächlich geleistete Stunden mitzählten. Bei der Frage, ob der Schwellenwert überschritten werde, ab dem Mehrarbeitszuschläge zu zahlen seien, seien vielmehr auch Urlaubsstunden zu berücksichtigen. Anderenfalls wäre die Regelung des MTV geeignet, die Arbeitnehmer*innen von der Inanspruchnahme ihres gesetzlichen Mindesturlaubs abzuhalten, was mit § 1 Bundesurlaubsgesetz in seinem unionsrechtskonformen Verständnis nicht vereinbar wäre.
Der Kommentar
Die Entscheidungen der Tatsacheninstanzen lassen einmal mehr erkennen, dass manche Gerichte bei geringen Streitwerten nicht unbedingt bereit sind, sich mit der gebotenen Ernsthaftigkeit einer im Raum stehenden Rechtsfrage zu befassen.
Dem Kläger ging es aber offenkundig nicht nur um 72,23 Euro brutto. Insoweit hätte er wahrlich mit Kanonen auf Spatzen geschossen. Die Kosten, die der Rechtsweg von Dortmund über Hamm und Erfurt nach Luxemburg und zurück verursachte, stehen in keinem Verhältnis zu dem geringen Betrag, um den es hier geht. Offensichtlich ist es dem Kläger also darum gegangen, dass die Rechtsfrage als solche höchstrichterlich geklärt wird.
Tatsächlich ist im deutschen Arbeitsrecht in der Regel die erste Instanz auch die letzte Instanz, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 600 Euro nicht übersteigt. Ausnahmsweise ist eine Berufung gegen Urteile des Arbeitsgerichts auch möglich, wenn das Gericht die Berufung zulässt. Dazu ist das Gericht verpflichtet, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert. Das Arbeitsgericht Dortmund ist in diesem Fall offensichtlich davon ausgegangen, dass die vorliegende Rechtsfrage grundsätzliche Bedeutung hat und hat dementsprechend die Berufung zugelassen.
Möglicherweise war dem Gericht aber auch klar geworden, dass hier ein bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Europäischen Union betroffen ist, der insbesondere in Artikel 7 der Richtlinie 2003/88 der EU manifestiert ist. Ergibt sich in einem Gerichtsverfahren, dass – entscheidungserheblich – eine europäische Rechtsnorm auszulegen ist, ist das Gericht in letzter Instanz nach Artikel 267 Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) verpflichtet, den EuGH anzurufen.
Das LAG hat hier den Bezug zur einschlägigen Richtlinie nicht gesehen. Der war – das muss eingeräumt werden – auf den ersten Blick auch nicht offenkundig. Artikel 31 Absatz 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und Artikel 7 der Richtlinie der Europäischen Union über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (2003/88/EG) regeln nämlich nicht die Voraussetzungen für die Ausübung und die Umsetzung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub. Das festzulegen ist Sache des Mitgliedsstaats. Die Charta garantiert Arbeitnehmer*innen das Recht auf bezahlten Jahresurlaub. Die Richtlinie setzt diesen Grundsatz um, indem sie die Dauer des Jahresurlaubs festlegt.
Der EuGH hat in mehreren Entscheidungen betont, dass der Anspruch auf Jahresurlaub einen doppelten Zweck verfolgt: Er soll einerseits Arbeitnehmer*innen ermöglichen, sich von der Ausübung der ihnen obliegenden Aufgaben zu erholen. Zum anderen soll der Anspruch garantieren, dass Beschäftigte über einen Zeitraum der Entspannung und Freizeit verfügen können. In der Entscheidung Schultz-Hoff (C-350-06) vom Januar 2009 erklärt der Gerichtshof, dass Arbeitnehmer*innen normalerweise eine tatsächliche Ruhezeit zusteht, damit ein wirksamer Schutz ihrer Sicherheit und Gesundheit sichergestellt ist.
In der Entscheidung Kreuziger (C-619/16) vom November 2018 weist der EuGH darauf hin, dass jede Praxis oder Unterlassung eines Arbeitgebers, die Beschäftigte davon abhalten kann, den Jahresurlaub zu nehmen, gegen das mit dem Recht auf bezahlten Jahresurlaub verfolgte Ziel verstößt. Vor dem Hintergrund dieser Rechtslage hatte das BAG nun dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt, ob Artikel 31 Absatz 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und Artikel 7 der Richtlinie 2003/88/EG einer Regelung in einem Tarifvertrag entgegenstehen, die für die Berechnung, ob und für wie viele Stunden Arbeitnehmer*innen Mehrarbeitszuschläge zustehen, nur die tatsächlich gearbeiteten Stunden berücksichtigt würden und nicht auch die Stunden, in denen Arbeitnehmer*innen ihren bezahlten Mindestjahresurlaub in Anspruch nehmen.
Der EuGH hat insoweit darauf hingewiesen, dass ein Mechanismus zur Anrechnung von Arbeitsstunden wie im fraglichen MTV den Arbeitnehmer davon abhalten könnte, in dem Monat, in dem er Überstunden erbracht hat, von seinem Recht auf bezahlten Jahresurlaub Gebrauch zu machen. Deshalb widerspräche der MTV dem europäischen Recht, wenn er Urlaubsstunden nicht als geleistete Arbeitsstunden berücksichtige.
Dass im vorliegenden Fall der EuGH letztlich eine europäische Rechtsnorm ausgelegt hat und die Sache schließlich im Sinne des Arbeitnehmers gelöst wurde, liegt in der Natur der Sache. Allerdings hätte bereits das Arbeitsgericht dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vorlegen können. Die Praxis, dass immer erst der nationale Rechtsweg ausgeschöpft wird, bevor der EuGH entscheidet, ist weder erforderlich noch sinnvoll. Gerade in Fällen, in denen es weniger um einen konkreten Anspruch geht als um die grundsätzliche Klärung einer europarechtlichen Frage, könnte bereits das Arbeitsgericht einen Vorlagebeschluss fassen. Das würde die Klärung erheblich beschleunigen.
Zusammengestellt und kommentiert von Hans-Martin Wischnath, langjähriger DGB-Rechtsschutzsekretär, Kuchen in Baden-Württemberg, 10.12.2022
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