Urteile
Bundesbeamte haben unmittelbar aus EU-Recht Anspruch auf Vaterschaftsurlaub
Orientierungssätze
Bundesbeamten steht unmittelbar aus dem EU-Recht ein Anspruch auf zehn Tage Vaterschaftsurlaub anlässlich der Geburt ihres Kinds zu. Das hat das Verwaltungsgericht Köln entschieden und damit der Klage eines Beamten gegen die Bundesrepublik Deutschland (BRD) als seinem Dienstherrn stattgegeben.
Gericht
Verwaltungsgericht Köln vom 11.09.2025Aktenzeichen
15 K 1556/24
Der Rechtsstreit
Ein Bundesbeamter hatte Ende 2022 Vaterschaftsurlaub beantragt, da bald zu erwarten war, dass seine Frau ein Kind zur Welt bringen würde. Zur Begründung hatte er sich auf die Vereinbarkeitsrichtlinie der EU berufen (Richtlinie zur Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben für Eltern und pflegende Angehörige – RL EU 2019/1158).
Die BRD hatte den Antrag abgelehnt. Einen Anspruch auf Vaterschaftsurlaub gebe es im nationalen Recht nicht. Der Beamte könne sich auch nicht unmittelbar auf die EU-Richtlinie berufen. Deutschland habe nämlich deren Vorgaben mit den Regelungen zu Elternzeit und Elterngeld erfüllt.
Der Kläger kann sich als Beamter unmittelbar auf die Vereinbarkeitsrichtlinie berufen
Daraufhin hat der Bundesbeamte, der im Anschluss an die Geburt zunächst Erholungsurlaub genommen hatte, im März 2024 Klage vor dem Verwaltungsgericht Köln erhoben.
Die Klage hatte Erfolg. Das Gericht hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger den beantragten Vaterschaftsurlaub rückwirkend zu gewähren und seinem Urlaubskonto gutzuschreiben.
Der Kläger könne sich entgegen der Auffassung der BRD unmittelbar auf die Vorschriften zum Vaterschaftsurlaub in der Vereinbarkeitsrichtlinie berufen. Denn Deutschland hätte die Richtlinie bis zum 2. August 2022 umsetzen müssen. Dieser Pflicht sei das Land aber nicht nachgekommen. Zwar habe es während der Zeit der Ampel-Koalition einen entsprechenden Referentenentwurf gegeben. Das Gesetz sei aber nicht verabschiedet worden.
Das Urteil betrifft Beschäftigte bei privaten Arbeitgebern nicht
Die Regelungen zu Elterngeld und Elternzeit genügten den Vorgaben der Richtlinie nicht. Deshalb könne sich Deutschland auch nicht auf die Ausnahmen berufen, die die Richtlinie vorsehe. Zwar könnten Väter anlässlich einer Geburt auch nur einzelne Tage Elternzeit in Anspruch nehmen, sie erhalten in diesem Fall aber nicht die von der Richtlinie vorgesehene Entgeltfortzahlung. Ein Elternteil habe nämlich nur dann Anspruch auf Elterngeld, wenn er es mindestens für zwei Lebensmonate des Kindes bezieht.
Dagegen könnten Beschäftigte bei privaten Arbeitgebern keinen Vaterschaftsurlaub beanspruchen. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) sei die unmittelbare Geltung auch eine Sanktion gegenüber dem Mitgliedstaat dafür, dass dieser eine Richtlinie nicht ordnungsgemäß umgesetzt hat. Dieser Gedanke greife im Verhältnis zwischen Privatpersonen nicht durch. In einem solchen Arbeitsverhältnis scheide eine unmittelbare Anwendung von Bestimmungen aus europäischen Richtlinien daher aus. Es könnten allenfalls staatshaftungsrechtliche Ansprüche bestehen.
Gegen das Urteil können die Beteiligten Berufung einlegen, über die das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster entscheiden wird.
Der Kommentar
Das Europarecht im engeren Sinne, das sogenannte „Unionsrecht“, ist auch für das Beamten- und Arbeitsrecht zunehmend wichtig. Unterschieden wird zwischen dem Primärrecht und dem Sekundärrecht. Zum Primärrecht gehören die Verträge, die die Mitgliedstaaten aneinanderbinden. Die beiden wichtigsten sind der Vertrag über die Europäische Union (EUV) und der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV).
Aufgrund der Verträge kann die EU verschiedene Rechtsakte erlassen. Das ist dann das sogenannte „Sekundärrecht“ der Europäischen Union. Insoweit sind vor allem Richtlinien und Verordnungen von Bedeutung. Verordnungen sind so etwas wie europäische Gesetze und gelten unmittelbar in den Mitgliedstaaten. Ein Beispiel ist die europäische Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO).
Mitgliedstaaten müssen Richtlinien innerhalb einer Frist umsetzen
Viel häufiger sind aber Richtlinien. Diese gelten nicht unmittelbar. Sie verpflichten aber die Mitgliedstaaten, ihr Recht im Sinne der Richtlinie anzupassen. Sie müssen selbst Rechtsakte wie Gesetze oder Verordnungen erlassen, die die Vorgaben der Richtlinie ins nationale Recht umsetzen. Die jeweilige Richtlinie bestimmt eine Frist, innerhalb dieser der Staat ihre Bestimmungen umgesetzt haben muss. Hat er das nicht, kann sie unmittelbar wirken. Voraussetzung ist allerdings, dass sie inhaltlich so konkret gefasst ist, dass sie sich zu einer unmittelbaren Anwendung eignet.
Allerdings ist eine sogenannte „horizontale Direktwirkung“, also eine Wirkung zwischen zwei Privaten, nicht möglich. Das betrifft auch die Wirkung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmer*innen. Verpflichtet wird nämlich durch eine Richtlinie der Mitgliedstaat, also etwa die Behörden oder die dienstrechtlichen Beziehungen im Staat selbst. Der einzelne Bürger oder die private juristische Person (z.B. AG oder GmbH) sind nicht an die Richtlinie gebunden.
Gebunden sind aber die Gerichte. Stellen sie fest, dass sich Ansprüche nicht aus deutschem Recht ergeben, möglicherweise aber aus einer Richtlinie der EU, legen sie dem EuGH die entsprechende Rechtsfrage zur „Vorabentscheidung“ vor. Der EuGH prüft dann, ob das nationale Recht im Einklang mit dem EU-Recht steht.
Gerichte sollen Bestimmungen, die den europäischen Regelungen entgegenstehen, nicht anwenden
Heute ist nicht mehr umstritten, dass es einen „Anwendungsvorrang“ des EU-Rechts gegenüber dem nationalen Recht gibt. Der EuGH hat in der sogenannten „Mangold-Entscheidung“ (EuGH vom 22. November 2005 – C-144/04) entschieden, dass es dem nationalen Gericht obliegt, im Rahmen seiner Zuständigkeiten den rechtlichen Schutz, der sich für den Einzelnen aus dem Gemeinschaftsrecht ergibt, zu gewährleisten und die volle Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts zu garantieren, indem es jede möglicherweise entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts unangewendet lässt.
Das gilt sogar, wenn die Frist zur Umsetzung noch nicht abgelaufen ist. Während dieser Frist dürfen die Mitgliedstaaten nämlich keine Vorschriften erlassen, die geeignet sind, die Erreichung des in dieser Richtlinie vorgeschriebenen Zieles ernstlich in Frage zu stellen.
Das Urteil des EuGH hat das Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung von 2010 auch für verfassungsgemäß gehalten. Hoheitsakte der Europäischen Union und Akte der deutschen öffentlichen Gewalt seien mit Blick auf den Anwendungsvorrang des Unionsrechts grundsätzlich nicht am Maßstab der im Grundgesetz verankerten Grundrechte zu messen. Der Anwendungsvorrang reiche jedoch nur so weit, wie es das Grundgesetz und das Zustimmungsgesetz die Übertragung von Hoheitsrechten erlauben oder vorsehen. Ob damit eine Art „mittelbare horizontale Direktwirkung“ besteht, ist umstritten.
Die deutschen Regeln zu Elternzeit und Elterngeld erfüllen die Richtlinie nicht vollständig
Im vorliegenden Fall geht es aber um ein Beamtenverhältnis, also um ein Rechtsverhältnis, an dem der Staat unmittelbar beteiligt ist. Das Verwaltungsgericht hat sich in seinem Urteil auf die Vereinbarkeitsrichtlinie berufen. Entscheidend war Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie:
Die Mitgliedstaaten ergreifen die notwendigen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass Väter oder – soweit nach nationalem Recht anerkannt – gleichgestellte zweite Elternteile, Anspruch auf zehn Arbeitstage Vaterschaftsurlaub haben, der anlässlich der Geburt des Kindes des Arbeitnehmers genommen werden muss. Die Mitgliedstaaten können bestimmen, ob der Vaterschaftsurlaub auch teilweise vor der Geburt des Kindes oder ausschließlich danach genommen werden kann und ob er in flexibler Form genommen werden kann.
Deutschland hatte sich im Verfahren auf die nationalen Regelungen zu Elternzeit und Elterngeld berufen und gemeint, es habe damit die Richtlinie umgesetzt. Das sieht das VG indessen anders. Insbesondere, da im deutschen Recht kein bezahlter Vaterschaftsurlaub geregelt sei, sei die Richtlinie nicht vollständig umgesetzt worden. Ob diese Begründung hält, ist indessen fraglich. Beamt*innen werden nämlich alimentiert und Entgeltfortzahlung spielt in ihrem Fall keine Rolle. Allerdings sehr wohl bei bei Arbeiter*innen und Angestellten des öffentlichen Diensts.
Zusammengestellt und kommentiert von Dietmar Christians, Ass. jur., Bremen, 25.09.2025
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