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Freistellung und Vergütungspflicht bei vorübergehender Arbeitsverhinderung

„Ohne Arbeit kein Lohn“? Diese Regel findet nicht ausnahmslos Anwendung. Ein Anspruch auf Entgeltfortzahlung kann sich aus gesetzlichen Vorschriften ebenso wie aus tariflichen Regelungen, Betriebs-/Dienstvereinbarungen oder arbeitsvertraglichen Absprachen ergeben.

Gibt es keine spezielle Regelung für einen Anspruch auf Entgeltfortzahlung, kann sich dieser im Fall einer kurzzeitigen Arbeitsverhinderung aus § 616 BGB ergeben. 

Daher soll es im Folgenden schwerpunktmäßig um die Voraussetzungen für einen Entgeltanspruch nach § 616 BGB gehen.

 

§ 616 BGB gilt für alle Dienstverhältnisse. Dazu gehört auch das Arbeitsverhältnis. Dies umfasst alle Vollzeit- und Teilzeit-, un- und befristete Arbeitsverhältnisse sowie kurzfristige Aushilfsarbeits- oder geringfügige Beschäftigungsverhältnisse. Sind Beschäftigte noch in der Probezeit gilt § 616 BGB ebenfalls. 

Für Auszubildende gilt ausschließlich § 19 BBiG.

Im Fall von flexibilisierten Arbeitszeitregelungen kann die Anwendung von § 616 BGB mangels bestehender Arbeitspflicht ausgeschlossen sein. Ist zwischen den Vertragsparteien beispielsweise außerhalb der Kernarbeitszeit Gleitzeit vereinbart und wird die Tätigkeit aufgrund einer persönlichen Verhinderung des Arbeitnehmers/der Arbeitnehmerin außerhalb der Kernarbeitszeit vorzeitig beendet bzw. verspätet aufgenommen, besteht aufgrund der vereinbarten Gleitzeit in diesem Zeitraum keine Arbeitspflicht.

§ 616 BGB gilt für Verhinderungen aus persönlichen Gründen. Das heißt, § 616 BGB greift nur, wenn der Grund für die Arbeitsverhinderung aus einem Ereignis der persönlichen Sphäre der Arbeitnehmerin bzw. des Arbeitnehmers resultiert. In Betracht kommen hier insbesondere familiäre Ereignisse.

Ist ein/-e Arbeitnehmer/-in dagegen aufgrund äußerer Ereignisse an der Erbringung der Arbeitsleistung gehindert, greift § 616 BGB nicht. Der Arbeitgeber ist daher auch nicht verpflichtet, das Entgelt fortzuzahlen. Ein Kennzeichen für äußere Ereignisse ist, dass hiervon meist mehrere Arbeitnehmer/-innen betroffen sind. Das ist beispielsweise bei Hindernissen auf dem Weg zur Arbeit der Fall, zu denken ist an Schneeverwehungen, Glatteis oder allgemeine Verkehrsstörungen. Lesen Sie hierzu auch unseren Praxistipp "Straßenglätte und Schneetreiben, verspätete bei der Arbeit – wer trägt das Risiko?".

Ein Anspruch aus § 616 BGB ergibt sich nur dann, wenn die unterbliebene Arbeitsleistung allein auf einem persönlichen Leistungshindernis beruht. Wäre die/der Beschäftigte auch beim Wegdenken des Leistungshindernisses aus einem anderen Grund ihren/seinen arbeitsvertraglichen Pflichten nicht nachgekommen, besteht also kein Anspruch auf Entgeltfortzahlung. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn der/die Arbeitnehmer/-in an dem Tag arbeitsunfähig oder in Urlaub ist.

Dasselbe gilt, wenn die/der Beschäftigte die Arbeitsverhinderung selbst verschuldet hat. Ein schuldhaftes Verhalten der/des Beschäftigten liegt vor, wenn sie/er den zur Dienstverhinderung führenden Grund vorsätzlich oder grob fahrlässig herbeigeführt hat.

Beschäftigte sind darüber hinaus verpflichtet, ihrem Arbeitgeber Grund und Dauer der Arbeitsverhinderung unverzüglich nach Kenntniserlangung anzuzeigen, damit dieser sich auf die Verhinderung einstellen kann.

Im Lauf der Zeit haben sich verschiedene Fallgruppen herausgebildet. In den folgenden Fällen wird meist ein Verhinderungsgrund im Sinne von § 616 BGB angenommen:

Krankheit und Arztbesuche
Krankheiten stellen zwar grundsätzlich einen in der Person liegenden Verhinderungsgrund dar, im Fall einer krankheitsbedingten Verhinderung findet das Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG) jedoch vorrangig vor § 616 BGB Anwendung. Etwas anderes gilt nur, wenn der persönliche und sachliche Anwendungsbereich des EFZG nicht eröffnet ist. Das ist beispielsweise bei freien Mitarbeitern der Fall, mit der Folge, dass für sie § 616 BGB auch im Krankheitsfall Anwendung findet.

Bei Arztbesuchen während der Arbeitszeit muss differenziert werden:

1. Ist bereits während des Arztbesuchs eine Arbeitsunfähigkeit gegeben, richtet sich der Anspruch auf Fortzahlung der Vergütung allein nach dem EFZG.

2. Ist der Beschäftigte dagegen zum Zeitpunkt des Arztbesuchs nicht arbeitsunfähig erkrankt, liegt ein persönlicher Verhinderungsgrund nur dann vor, wenn der Arztbesuch medizinisch notwendig war, was bei akuten Beschwerden der Fall ist.

3. Handelt es sich um allgemeine Untersuchungs- und Behandlungstermine, für die keine unmittelbare ärztliche Versorgung angezeigt ist, besteht ein Anspruch auf Entgeltfortzahlung nur dann, wenn der Arztbesuch nur während der Arbeitszeit stattfinden kann, zum Beispiel im Fall einer Blutabnahme im nüchternen Zustand. Für weitergehende Informationen verweisen wir auch auf unseren Praxistipp "Arztbesuch während der Arbeitszeit".

Pflege naher Angehöriger
Unvorhergesehene Kurzerkrankungen naher Angehöriger, die eine Pflege erforderlich machen, stellen ebenfalls ein persönliches Leistungshindernis im Sinne von § 616 BGB dar. Das gilt entsprechend § 45 SGB V insbesondere bei Kindern bis zur Vollendung des 12. Lebensjahres. Aber auch bei Erkrankung älterer Kinder und anderer naher Angehöriger der häuslichen Gemeinschaft, wie Ehepartner, Lebenspartner, Eltern oder Geschwister, kann je nach Umständen ein persönliches Leistungshindernis angenommen werden. Maßgeblich ist immer, dass eine anderweitige Versorgungsmöglichkeit unter keinen Umständen realisierbar ist. (Lesen Sie hierzu auch unseren Praxistipp "Pflege eines kranken Kindes bzw. Angehörigen".) Sind beide Eltern eines erkrankten Kindes berufstätig, können die Eltern selber entscheiden, wer von ihnen die Pflege des erkrankten Kindes übernimmt. Als Rechtsgrundlage für eine Freistellung kommt auch § 2 Abs. 1 Pflegezeitgesetz (PflegeZG) in Betracht. Hiernach haben Eltern das Recht bis zu 10 Tage im Jahr von der Arbeit fernzubleiben, soweit dies zur Pflege von nahen Angehörigen erforderlich ist. Das Pflegezeitgesetz regelt allerdings nur die Freistellung und verpflichtet den Arbeitgeber nicht zur Zahlung des Lohns. Dies regelt sich wiederum nach § 616 BGB.

Familiäre Ereignisse
Auch herausragende familiäre Ereignisse können einen persönlichen Verhinderungsgrund im Sinne des § 616 BGB darstellen. Zu derartigen familiären Ereignissen zählen u.a.

  • die eigene Hochzeit
  • die Hochzeit der Kinder sowie der Eltern oder eines Elternteils
  • die goldene Hochzeit der Eltern
  • die Niederkunft der Ehefrau und der in häuslicher Gemeinschaft lebenden Partnerin
  • religiöse Feste wie Erstkommunion oder Konfirmation
  • Begräbnisse im engen Familienkreis (Eltern, Kinder, Geschwister) oder von im Haushalt lebenden Angehörigen
  • persönliche Unglücksfälle wie Wohnungsbrand oder Einbruch.

 

Umzug
Ein Anspruch auf bezahlte Freistellung nach § 616 BGB aufgrund eines Umzugs besteht nur, wenn der Umzug objektiv notwendig war und es der/dem Beschäftigten nicht zuzumuten war, diesen in der Freizeit durchzuführen. Das kann der Fall sein, wenn der Umzug aufgrund betrieblicher Gründe vom Arbeitgeber veranlasst wurde.

Öffentliche Pflichten, Vorladungen
Die Wahrnehmung amtlicher Termine kann ebenfalls zu einem persönlichen Hinderungsgrund führen, beispielsweise, wenn die/der Beschäftigte einer gerichtlichen oder behördlichen Vorladung während der Arbeitszeit nachkommen muss. Handelt es sich bei dem behördlichen bzw. gerichtlichen Verfahren jedoch um eine private Angelegenheit des Beschäftigten bzw. dient das Verfahren der Durchsetzung seiner eigenen Rechte, ist ein Anspruch auf Entgeltfortzahlung nur dann gegeben, wenn das Gericht das persönliche Erscheinen des Arbeitnehmers bzw. der Arbeitnehmerin angeordnet hat. Das gleiche gilt für einen gegen den Arbeitgeber geführten arbeitsgerichtlichen Prozess.

Ehrenämter
Bei einer Kollision zwischen der Arbeitspflicht und der Pflicht aus ehrenamtlicher Tätigkeit ist ebenfalls zu differenzieren. Pflichten als ehrenamtliche/-r Richterin/Richter und in der Selbstverwaltung der Sozialversicherung stellen eine persönliche Verhinderung i.S.v. § 616 BGB dar. Andere Ehrenämter, beispielsweise die Wahrnehmung von Aufgaben in privaten Vereinen, wozu auch Tätigkeiten für die Gewerkschaft zählen, begründen in der Regel keinen bezahlten Freistellungsanspruch. Jedoch gibt es häufig tarifliche Regelungen oder andere Vereinbarungen zwischen den Tarifvertragsparteien, die Teilnahmerechte an Veranstaltungen wie Tarifkommissionssitzungen u.a. regeln.

Quarantäne
Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG vom 20. Juli 1977 – 5 AZR 325/76) sind alle Fälle der kurzzeitigen Verhinderung außerhalb des Rechts und der Anspruch der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall einheitlich nach § 616 Abs. 1 BGB zu beurteilen. Dies gilt auch für den Fall der durch eine Behörde angeordneten Quarantäne nach dem Infektionsschutzgesetz (IfSG).

Dauert die Quarantäne länger an, hat der Arbeitgeber einen Erstattungsanspruch nach § 56 Abs. 5 IfSG gegenüber den jeweiligen Landesbehörden. Nach § 56 Abs. 5 IfSG bemisst sich die Entschädigung für die ersten sechs Wochen einer Quarantäne nach dem Verdienstausfall des Arbeitnehmers/der Arbeitnehmerin, also nach dem Netto-Arbeitsentgelt. Vom Beginn der siebten Woche an richtet sich die Entschädigung nach der Höhe des Krankengeldes. Fristen und Formalitäten der Antragstellung regeln die jeweiligen Landesbehörden, z.B. Sachsen (https://www.lds.sachsen.de/soziales/?ID=15508&art_param=854) oder Bayern (https://www.regierung.niederbayern.bayern.de/aufgabenbereiche/5g/rechtsfragen/entschaedigung_ifsg/index.php)

Tipp: Unverzüglich Kontakt mit dem Arbeitgeber aufnehmen, mitteilen für welchen Zeitraum die Quarantäne angeordnet wurde und klären, ob z.B. eine Homeoffice-Tätigkeit möglich ist.

Kinderbetreuung aufgrund der Schließung von Kindertagesstätten und Schulen

Eltern haben die Pflicht und das Recht, sich um ihre minderjährigen Kinder zu kümmern. Dagegen steht die Pflicht zur Erfüllung der Arbeitsleistung aus dem Arbeitsvertrag. Allerdings geht die Sorgepflicht um das Kind der Arbeitspflicht vor. Die Eltern sind aber grundsätzlich verpflichtet, alles zu versuchen, um das Kind anderweitig unterzubringen. Gelingt dies nicht, liegt ein Verhinderungsgrund nach § 616 BGB vor. Für eine verhältnismäßig nicht erhebliche Zeit existiert dann ein Anspruch auf bezahlte Freistellung.

Tipp: Auch hier unverzügliche Kontaktaufnahme mit dem Arbeitgeber und Klärung der weiteren Maßnahmen.

Sonderregelung für Beschäftigte im Geltungsbereich des öffentlichen Dienstes: Die Vereinigung der kommunalen Arbeitgeber (VKA) hat die Möglichkeit zur Entgeltfortzahlung bei Arbeitsbefreiung wegen Kinderbetreuung ausgeweitet: Hier geht es zur Pressemitteilung des VKA.

Betriebsschließung aufgrund von behördlicher Gebiets- oder Aufenthaltssperren

Liegt der Betrieb bzw. Arbeitsort in einem von der Sperrung betroffenen Gebiet, hat der Arbeitgeber das Risiko des Arbeitsausfalls zu tragen (§ 615 BGB). Das sogenannte Betriebsrisiko, den Betrieb nicht weiterbetreiben zu können, liegt nämlich beim Arbeitgeber, und die Ansprüche auf Vergütung bleiben in diesen Fällen bestehen.

Wohnt der Arbeitnehmer/die Arbeitnehmerin selbst in einem von einer behördlichen Sperrung betroffenen Gebiet und kommt keine Homeoffice-Tätigkeit in Betracht, besteht unter den Voraussetzungen des § 616 BGB ein Anspruch auf Vergütung.

Neben den bereits aufgeführten Kriterien setzt der Anspruch auf Entgeltfortzahlung voraus, dass die Arbeitsverhinderung nur eine "verhältnismäßig nicht erhebliche" Zeit andauert. Überschreitet die Verhinderung die Verhältnismäßigkeitsgrenze, entfällt der Anspruch auf Vergütung vollständig und nicht nur hinsichtlich des unverhältnismäßigen Teils. Für die Frage, welcher Zeitraum als verhältnismäßig anzusehen ist, sind die Gesamtumstände im Einzelfall zu berücksichtigen. Eine Festlegung auf eine feste Anzahl von Tagen ist in § 616 BGB nicht vorgesehen. Für die Bewertung der Verhältnismäßigkeit sind die Dauer der Verhinderung und die bisherige Beschäftigungsdauer maßgeblich. Bei punktuellen Ereignissen wie Hochzeit, Geburt etc. gewährt die Rechtsprechung regelmäßig eine bezahlte Freistellung von einem Tag. Bei der Pflege erkrankter Kleinkinder ist eine Obergrenze von fünf Tagen anzunehmen. Es dürfte sich jedoch auch bei schwerwiegenden Umständen nur um einen Anspruch für wenige Tage handeln. Treten mehrfach Verhinderungsfälle auf, werden diese dann nicht zusammengerechnet, wenn sie auf unterschiedlichen Ursachen beruhen.

Für den Fall der Quarantäne nach dem Infektionsschutzgesetz sieht die Rechtsprechung die (allgemein für Erkrankungen geltende) Sechs-Wochen-Frist bei länger bestehenden unbefristeten und ungekündigten Arbeitsverhältnissen als "verhältnismäßig nicht erhebliche"  Zeit an (so der Bundesgerichtshof vom 30. November 1978 – III ZR 43/77).

Von § 616 BGB  können in Tarifverträgen, Betriebs- bzw. Dienstvereinbarungen oder Arbeitsverträgen Abweichungen sowohl zugunsten als auch zulasten der Beschäftigten vereinbart werden. Auch ein vollständiger Ausschluss des § 616 BGB ist grundsätzlich möglich. Zahlreiche Tarifverträge regeln insbesondere die Fälle und Dauer der Verhinderung sehr detailliert und abhängig vom einzelnen Anlass, so beispielsweise § 29 TVöD. Derartige Vereinbarungen bieten zwar eine gute Orientierung, gelten verpflichtend jedoch nur im Verhältnis zwischen tarifgebundenen Arbeitgebern und Gewerkschaftsmitgliedern.

Neben dem Anspruch auf bezahlte Freistellung nach § 616 BGB gibt es eine Reihe weiterer gesetzlicher Sondervorschriften zur Vergütungsfortzahlung bei persönlichen Leistungshindernissen, die nach ihrem Sinn und Zweck einen Rückgriff auf den generalklauselartigen § 616 BGB ausschließen, so zum Beispiel die folgenden Vorschriften:

  • § 19 Abs. 1 Nr. 2b BBiG – Freistellungsanspruch für Auszubildende
  • § 3 EFZG – Lohnfortzahlungsanspruch bei Erkrankung von Arbeitnehmern/Arbeitnehmerinnen
  • §§ 3, 11 MuSchG – Beschäftigungsverbot für werdende Mütter
  • § 37 Abs. 2, 6 und 7 BetrVG – Freistellung für Betriebsratsmitglieder zur Wahrnehmung betriebsverfassungsrechtlicher Aufgaben
  • § 54 Abs. 1 BPersVG, sowie nach den vergleichbaren Vorschriften der Landespersonalvertretungsgesetze – Freistellung für Personalratsmitglieder für die Teilnahme an Schulungs- und Bildungsveranstaltungen
  • §§ 2 Abs. 3, 5 Abs. 3 ASiG – Freistellungsanspruch für Betriebsärzte/-ärztinnen und Fachkräfte für Arbeitssicherheit zur Teilnahme an Fortbildungen
  • § 629 BGB – Freistellungsanspruch für Arbeitnehmer/-innen zur Stellensuche und zur Meldung bei der Agentur für Arbeit nach § 38 Abs. 1 SGB III
  • Bildungsurlaub – nach den entsprechenden landesrechtlichen Vorschriften z.B. nach § 1 Abs. 1 Bildungsurlaubsgesetz Hessen oder § 1 Abs. 1 Bildungszeitgesetz Baden-Württemberg.

Redaktioneller Stand: März 2020

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